Nach 20 Jahren in getrennte Wohnungen ziehen

Als Nora und Thomas sich vor 20 Jahren beim BWL-Studium ineinander verliebten, wussten beide ziemlich schnell, dass sie zusammenbleiben und eine Familie gründen wollen. Nun offenbaren sich aber unterschiedliche Vorstellungen, was die zukünftige Wohnsituation angeht.

Sie teilten Werte und Interessen. Sie teilten alles, und vor allem teilten sie die Vorstellungen, wie sie später leben wollen. Wie viele Kinder sie möchten, ob diese getauft werden sollen und nach welchen pädagogischen Prinzipien sie erzogen werden. Welche Rolle die Karriere von Nora und Thomas spielen darf, wie sie ihre beruflichen Ambitionen mit den familiären vereinbaren wollen und können. Das Paar könnte als eine Art psychologisches Anschauungsmaterial für die Theorie dienen, dass in einer Ehe nicht „nur“ die Liebe zählt, sondern die Harmonie wesentlich an der Kongruenz der Visionen hängt, die jede und jeder für sich hat. So war das bei Nora und Thomas. Das Gefühl und die Erotik stimmte natürlich auch, einfach das perfekte Match. In einem Punkt konnten sich Nora und Thomas zum Zeitpunkt ihres Zusammenziehens nicht einigen: ob sie in einem Reihenhaus am Stadtrand leben – oder in einer Altbauwohnung mitten in der Stadt. Doch getrennte Wohnungen kamen damals nicht in Frage.

Thomas ist auf dem Land groß geworden

Für ihn war klar, dass eine Kindheit ohne Garten nicht in Frage kommt. Und da eine Wohnung mit Garten in der Innenstadt nicht zu bezahlen ist, kam für ihn nur ein Haus am Stadtrand in Frage. Nora fand die Aussicht spießig, willigte aber nach der Geburt des ersten Kindes ein, mit der Familie aus der Stadt rauszuziehen. Auch sie fand es dann schön und wichtig, dass die Kinder einen Garten haben. Jetzt sind die Kinder aus dem Haus, sie studieren. Nora und Thomas sind früh Eltern geworden, sie sind beide Mitte 40. Nora möchte noch einmal neu starten, gerade in der Hinsicht, was das Räumliche angeht. Sie möchte das Haus verkaufen und endlich wieder ihren Traum leben, in der Stadt zu wohnen. Für Thomas ist das keine Option.

Sind getrennte Wohnungen die Lösung?

Er möchte im Haus bleiben. Das Paar streitet sich seit einigen Monaten zäh und fast erbittert um die Wohnform. Nora wirft Thomas vor, dass er beim Einzug in das Haus versprochen habe, später wieder in die Stadt zu ziehen. Und jetzt kneift er. Nora fühlt sich betrogen. Da Geld im Leben des Paars keine Rolle spielt, beide verdienen sehr gut und haben auch noch geerbt, kommt Thomas auf die Idee, dass sie das Haus behalten und in der Stadt eine Immobilie kaufen und von Wohnung zu Haus wechseln und zurück. Zusammen sein und in getrennten Wohnungen leben, zumindest ab und zu. 

„Living apart together“ heißt dieses Modell

Thomas ist ganz vernarrt in die Idee. Nora dagegen ist empört. Sie versteht diesen Vorschlag als Absage an die Partnerschaft. Thomas beteuert, dass das Gegenteil der Fall sei, dass er Nora total liebe und ihr Glück wolle und quasi zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen möchte. Er möchte eine besondere Nähe herstellen. Eine, die sich aus der Distanz speist und die die Liebe inspiriert. Und zugleich bekommen Nora und Thomas auf diese Weise ihre Wohnträume erfüllt. 

„Wenn ich das schon höre“, sagt Nora, „Living apart together“, das ist doch Quatsch. Wer denkt sich denn so was aus? Liebe am Reißbrett? Paare, die sich im Grunde genommen miteinander langweilen, die mit der Beziehung nur klarkommen, wenn man den anderen sparsam dosiert sieht? Das ist doch ein müder Abklatsch von Liebe. Wenn man seine Partnerschaft derart mit Kalkül und Strategie leben möchte, von mir aus, aber dann entscheidet man sich doch von Anfang an dafür. Jetzt nach 20 Jahren unter einem Dach plötzlich in getrennten Wohnungen leben und eine Art Fernbeziehung auszurufen, das sieht für mich nach Feigheit aus. Nach Feigheit, offen zu sagen, dass man keinen Bock mehr auf die Beziehung hat. Wenn man die Liebe künstlich aufblasen muss, weil man sich gern eine knappe Stunde lang ins Auto setzt, um zu seiner Ehefrau zu gelangen. Das ist nämlich die Fahrzeit vom Stadtrand in die Innenstadt, um dann während der Zeit erst richtig Lust auf seine Partnerin zu kriegen, dann ist es nicht weit her mit Liebe und Lust. Das ist mein letztes Wort in der Sache.“ 

Thomas versteht Nora durchaus

Er kennt sie, er weiß, sie macht keine halben Sachen. Sie ist gleichermaßen eine rationale wie leidenschaftliche Frau. Und das sind die Eigenschaften, die er an ihr schätzt. Es ist ihm bewusst, dass eine Frau wie Nora einen Masterplan für Leben, Lieben und Wohnen ablehnt. Er hat nur gehofft, dass sie sich überwindet und hier einmal genauer hinschaut, um zu erkennen, dass es eine Chance sein könnte, wenn sie sich auf etwas einlässt, das ihr auf den ersten Blick absurd erscheint.  


Weitere interessante Beiträge