Der Mann, der einmal ein Mädchen war – ein Buchtipp

Ricardo wurde als Anja geboren. Schon früh wusste er, dass seine Seele und sein Körper nicht zusammenpassen. Doch bis er den Mut fand, sich zu outen und seine wahre Identität zu leben, vergingen viele Jahre. Jahre voller Angst, Jahre des Versteckens, des Doppellebens, des Ertragenmüssens. Seine bewegende Lebensgeschichte hat Ricardo nun aufgeschrieben.

Es war Energie und Liebe, die ich mit ihr austauschen durfte. Und doch erlebte ich genau durch diese echte Intimität, wie schön auch körperliche Liebe sein kann. Sie war die erste Frau, die mich berühren durfte, bei der sich Nacktheit für mich natürlich anfühlte und mich nicht mehr länger verunsicherte. Bei ihr konnte ich weinen, schwach sein und durfte endlich Mann sein, ambitioniert meine Ziele verfolgen und konsequent meinen Weg gehen. Miriam konnte sich bei mir anlehnen, endlich loslassen und ihrer eigenen Weiblichkeit begegnen. Sie konnte zulassen und ich durfte geben. Ich spürte eine innere Balance, eine wohltuende Ausgeglichenheit. Ich wurde nicht mehr bekämpft und ich musste auch nicht mehr kämpfen – weder für oder gegen mich noch gegen andere Menschen. So sein zu dürfen, wie ich war, war mein größtes Glück.

Und das teilte ich mit ihr

Es war ein geborgenes und liebevolles Feld, in dem wir uns gegenseitig entdecken konnten. Im Bett, aber auch in unserem Alltag. Und dieser Alltag beinhaltete so viel. Tiefen, ungemütliche Situationen, die mich aus meiner Komfortzone lockten … und Antworten auf Fragen, die nicht ehrlicher hätten sein können. Ich musste mich auch mit diesen fordernden Aspekten unserer Beziehung auseinandersetzen, wenn ich unsere Partnerschaft als Ganzes erleben und wachsen sehen wollte.

Die Nachwehen meiner letzten Operation reichten von schmerzenden, offenen Wunden über eine neu erlebte Identität im Körper eines Mannes bis hin zu einem gefährlichen Keim, der sich in meiner Leistengegend breitgemacht hatte. Er hatte bereits einen Hoden befallen und es bestand der dringende Verdacht, dass er nicht nur meinen anderen Hoden befallen könnte, sondern auch die Penispumpe, die bei meiner letzten Operation eingesetzt worden war. Nach Rücksprache mit dem Arzt, der die OP in Potsdam geleitet hatte, hieß es dann sofort, dass eine Notoperation nötig sei, um diese Organe zu retten. Ein kräftezehrender Rückschlag, der nicht nur körperlich schmerzte.

Nachdem ich nach dem Eingriff wieder entlassen worden war, musste die Wundversorgung zu Hause durchgeführt werden – von Miriam. Wir waren zu dieser Zeit erst einige Monate ein Paar – und schon lag ich mit gespreizten Beinen vor ihr, um mir von ihr mein bestes Stück desinfizieren und verbinden zu lassen. Sie und ich waren also gezwungen, unsere Intimität mit neuen Augen zu sehen. Und so heilten nicht nur die Wunden meiner Operationen, sondern wir beide gleich mit. Wir hatten keine Geheimnisse voreinander, konnten über alles sprechen und lernten ein Vertrauen kennen, das über körperliches Bewusstsein hinausreicht. Und dann konnten wir endlich – nach über einem halben Jahr – auch unsere körperliche Liebe genießen.

Es war mehr als Sex

Ein unbeschreibliches Erlebnis, das ich mit dieser Frau, der Liebe meines Lebens, erfahren durfte. Da Sexualität in der ersten Zeit unserer Beziehung nicht möglich gewesen war, bekamen wir die Chance, uns auf eine Art kennenzulernen, die für Miriam und mich völlig neu war und unsere Verbindung auf seelischer Ebene stärkte. Wir wählten sozusagen eine eher untypische Vorgehensweise, nahmen den Akt und die reine Körperlichkeit aus unserer Beziehung und lernten einander seelisch kennen und lieben, bevor wir uns auch körperlich vereinten.

Dieser Weg, den wir uns womöglich nicht ausgesucht hätten, wäre ich körperlich in der Lage gewesen, mit Miriam zu schlafen, war für uns von unschätzbarem Wert. Unsere sechsmonatige Abstinenz war im Nachhinein gesehen das Beste, was uns passieren hatte können. Die Zeit, die wir in diesen Monaten erlebten, bildete das starke Fundament unserer Beziehung, mit dem uns so schnell nichts aus der Bahn werfen konnte. Immerhin bestand die Möglichkeit, in diesem Dorf, in dem wir wohnten, als Paar extrem anzuecken und damit vielleicht sogar eine Welle der Empörung auszulösen.

Wir konnten die Reaktionen nicht einschätzen, aber wir waren uns sicher, dass wir unsere gemeinsame Zukunft an diesem Ort verwirklichen wollten – komme, was wolle. Hier, wo auch unsere Vergangenheit zu Hause war, wir beide aufgewachsen waren und fast unser gesamtes Leben verbracht hatten. Und auch heute noch nach wie vor dort leben. Unsere Arbeits- und Lebensmittelpunkte sind hier. Miriams Haus, der Friseursalon, unsere Familien und unsere Freundinnen und Freunde. Alles spielt sich in ein und demselben 2500-Seelen-Dorf im Tiroler Oberland ab.

Aber die erwartete Welle blieb aus

Es schien, als hätten die anderen Bewohnerinnen und Bewohner unseres Dorfer beschlossen, uns mit ihrer Sicht der Dinge nicht unnötig zu konfrontieren. Und das war genau das, was wir gehofft hatten. Die Meinung anderer interessierte uns nicht wirklich. Wenn es um unsere Beziehung ging, hatten wir nicht das Bedürfnis, uns von außenstehenden Personen einen Rat oder eine persönliche Meinung einzuholen. Wir waren uns sicher, was wir wollten. Eine Diskussion war nicht nötig. Auch nicht, als Miriam mich vorsichtig fragte, ob ich mir sicher war, dass ich genau jetzt eine feste Beziehung wollte. Das war keine gefühllose Einladung zu einer offenen Beziehung – sie wollte mir damit sagen, dass sie es verstanden hätte, wenn ich mich ausprobieren hätte wollen. Nach über 29 Jahren, in denen ich immer ein echter Mann hatte sein wollen, hatte ich nie die Gelegenheit gehabt, gesunde Sexualität zu erfahren.

Und in dem Moment, als ich nach mittlerweile vier Operationen einen Penis und die Körpermerkmale eines Mannes hatte, wollte ich mich voll und ganz dieser einen Frau verschreiben. Sie wollte mich damit nicht einengen, doch für mich war sie die einzige Frau, mit der ich mein Leben verbringen wollte. Ich hatte nicht das Bedürfnis, mit anderen Frauen ins Bett zu steigen und die nächsten Jahre als Single zu verbringen. Was ich wollte, war sie. Immer – jeden Tag – bis ans Ende unseres Lebens. Und dieses Leben wollte gerade erst so richtig beginnen. Denn mit meinem Heiratsantrag und ihrem „Ja, ich will!“ auf der Spitze des Faltegartenköpfels machten wir uns auf in Richtung Gipfel unserer Liebe. Hier oben war ich angekommen – bei uns, bei mir und diesem Schema F, das sich schlussendlich als absoluter Plan A offenbarte.

Ricardo Föger: "Der Mann der einmal ein Mädchen war" – ein Buchtipp

Der Mann, der einmal ein Mädchen war:
Meine zwei Leben im Dorf
Ricardo Föger

Hardcover: ca. 220 Seiten
Preis: 20,90€
Verlag: Michael Wagner Verlag

Auch als eBook
ISBN-10: 978-3-7107-6767-8

Erhältlich bei z.B. Amazon


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