Der Mann, der einmal ein Mädchen war – ein Buchtipp

Ricardo wurde als Anja geboren. Schon früh wusste er, dass seine Seele und sein Körper nicht zusammenpassen. Doch bis er den Mut fand, sich zu outen und seine wahre Identität zu leben, vergingen viele Jahre. Jahre voller Angst, Jahre des Versteckens, des Doppellebens, des Ertragenmüssens. Seine bewegende Lebensgeschichte hat Ricardo nun aufgeschrieben.

Ich kann mich noch sehr gut an den Tag erinnern, an dem ich sie in Silz wiedersah – auf der dorfbekannten Wirtschaftsmesse. Miriam, ihre Mutter und das Salon-Team präsentierten bei diesem Event die neuesten Trends und standen mit ihren Models auf der Bühne, um live und vor Publikum zu frisieren. Ich saß ganz hinten, in der letzten Reihe, und beobachtete akribisch jede Bewegung, jeden Schritt und jedes Lächeln, das sie vielleicht in meine
Richtung werfen könnte. Aber wieso hätte sie das machen sollen? Auch wenn wir im selben Dorf lebten, uns immer mal wieder beim Einkaufen begegneten und sogar beide Mitglieder im Krampusverein waren, verband uns an diesem Punkt in Leben nicht wirklich etwas – keine flüchtige Bekanntschaft und schon gar keine Freundschaft. Sie war eine Frau, ich war nach außen hin eine Frau und sie wusste nichts von meinem Doppelleben.

Aber ich wusste: Ich war verliebt – in sie

Die Jahre vergingen, mein Coming-out war bereits dorfbekannt und mein Leben hatte sich von Grund auf verändert. Doch in Miriam war ich immer noch verliebt. Es war an einem Sommertag 2015, fast genau zehn Jahre nach diesem Tag auf der Wirtschaftsmesse, als sie ein weiteres Mal in mein Leben trat. Oder besser gesagt: ich in das ihre. In ihren Friseursalon, weil ich einen neuen Haarschnitt brauchte. Mit der Zeit entwickelte sich aus einer anfänglichen Kundenbeziehung und gemeinsamen Kindheitserinnerungen eine Freundschaft. Und obwohl meine Intuition immer wieder versuchte, mir mitzuteilen, dass sie die Frau meiner Träume war, unterdrückte ich meine Gefühle, gab ihnen einen neuen Namen und wollte Miriam ein echter Freund sein.

Sie war verheiratet, Mutter einer kleinen Tochter und besaß ein Haus

Niemals würde sie das aufgeben – schon gar nicht für mich. Warum auch? Es gab keinen nachvollziehbaren Grund. Sie hatte alles, was man sich wünschen konnte. Alles, was ich mir wünschte – mit ihr. Doch an eine gemeinsame Zukunft war nicht zu denken. Nach einigen Monaten brach unser Kontakt wieder ab. Diesmal war aber nicht das Leben mit seinen unvorhersehbaren Wendungen verantwortlich, sondern Miriams Entschluss, dass es so, wie es lief, nicht weitergehen konnte. Sie war im Zwiespalt. Auf der einen Seite war sie Ehefrau und Mutter, auf der anderen Seite standen ich und unsere Freundschaft. Viel zu chaotisch entwickelte sich ihr Leben in jenem Moment – und zu stark könnte sich unser Kontakt auf ihre Ehe und die Zukunft mit ihrem Mann auswirken. Darum schob sie einen Riegel vor und stach mir damit mitten ins Herz.

Und doch konnte ich sie verstehen. Auch wenn sie und ihr Mann Probleme in ihrer Ehe hatten, waren es doch ihre Probleme, die sie gemeinsam lösen mussten. Ich hatte kein Recht darauf, mich als dritte Person zwischen sie zu stellen. Miriam musste ihr Leben selbst auf die Reihe bekommen und ich das meine. Immerhin stand ich vor meiner großen, lebensverändernden Operation in Potsdam und sollte meinen Fokus ohnehin wieder auf mich und meine Meilensteine richten. Ich war mir sicher: Wenn das Leben einen Plan für uns hatte, würde es alles in Bewegung setzen, damit wir uns eines Tages wieder über den Weg laufen. Und so kam es auch. Ein Jahr später, im Sommer 2016.

Ein Herz braucht Luft

Es war alles noch frisch: mein neues Leben und die Wunden von meiner geschlechtsangleichenden Operation. Letztere musste ich regelmäßig neu verbinden und kontrollieren lassen. Zuerst hatte das mein Hausarzt im Dorf erledigt, doch aufgrund der großflächigen Wunden entschied ich mich dann doch, von der kleinen Ordination in ein Krankenhaus zu wechseln und die Wundversorgung und -pflege in der Innsbrucker Klinik durchführen zu lassen. Vor Ort wurde ich gleich in die Ambulanz geschickt und war erleichtert, dass ich die diplomierte Gesundheitsund Krankenpflegerin, die sich meiner Wunden annahm, kannte – Jeanette. Sie wohnt im selben Dorf wie ich und wir hatten uns schon vor meiner OP immer mal wieder beim Klettern, im Schwimmbad und auf dem ein oder anderen Fest getroffen.


Weitere interessante Beiträge