Der Mann, der einmal ein Mädchen war – ein Buchtipp

Ricardo wurde als Anja geboren. Schon früh wusste er, dass seine Seele und sein Körper nicht zusammenpassen. Doch bis er den Mut fand, sich zu outen und seine wahre Identität zu leben, vergingen viele Jahre. Jahre voller Angst, Jahre des Versteckens, des Doppellebens, des Ertragenmüssens. Seine bewegende Lebensgeschichte hat Ricardo nun aufgeschrieben.

Und wie es in einem Dorf eben so ist: Sie kannte auch Miriam. Genau genommen sind sie bis heute sogar gute Freundinnen. Das wusste ich – und eines Tages nahm ich meinen Mut zusammen und fragte Jeanette, wie es Miriam ging. Sie konnte zu diesem Zeitpunkt wohl bereits den Schluss daraus ziehen, dass ich Gefühle für Miriam hatte, und wusste auch von ihr, dass da mehr zu sein schien, als wir beide uns gegenseitig eingestanden hatten. Jeanette erzählte mir, dass sich Miriam mittlerweile getrennt hatte, ihr Ex-Mann aus dem gemeinsamen Haus ausgezogen war und es ihr gut damit ginge, dass sie diese Entscheidung für sich und Elea getroffen hatte. Was ich damals noch nicht wusste: Auch Miriam erkundigte sich bei Jeanette nach mir. Ihre Fragen wurden wie meine immer persönlicher und so half uns Jeanette als Freundin, indem sie unsere Nachrichten weiterleitete und unsere Herzen mit dem Pflaster
der Hoffnung versorgte. Die Hoffnung, dass wir uns schon bald ein Herz fassen würden, um uns persönlich all das zu sagen, was uns auf der Seele lag.

Da kamen das Leben und sein Plan ins Spiel

Wir liefen uns immer wieder zufällig irgendwo im Dorf über den Weg. Zu den untypischsten Zeiten, an den kuriosesten Orten. Wie zum Beispiel mitten unter der Woche am helllichten Tag bei einer alten Mühle am Waldrand, einem abgelegenen Idyll im Dorf. Hauptsache, unsere Wege kreuzten sich, damit uns kein Grund dafür blieb, einander zu vergessen. Die Gefühle, die ich damals ganz weit zurückgestellt hatte, kamen wieder ans Licht. Nur diesmal hörte ich ihnen zu und gab ihnen meine Stimme. Ich wollte Miriam endlich die Wahrheit sagen – über mich und meine Liebe zu ihr. Ich wollte ihr so vieles erklären, ihr sagen, was tief in meinem Innersten vor sich ging, und meinem Herzen endlich Luft machen.

Das tat ich dann auch. Ein Schritt, den ich nie bereut habe. Auch Miriam hatte in den vergangenen Monaten Gefühle für mich entwickelt – und versucht, diese vor mir und sich selbst zu verstecken. Bis zu dem Augenblick, an dem wir erkannten, dass es nicht nötig war, unsere Liebe geheim zu halten. Ganz im Gegenteil. Wir waren verliebt, wollten die Welt daran teilhaben lassen und allen zeigen, dass wir zusammengehören. Sie stand zu mir, meiner neuen Identität und meiner Vergangenheit. Und ich stand zu ihr, ihrem Leben und ihrer Tochter. Wir respektieren uns, ließen uns so sein, wie wir waren – und liebten uns für all das.

Nur so konnten wir ein neues Leben aufbauen und eine gemeinsame Zukunft kreieren

Zu dritt – weil auch Elea, Miriams Tochter, mit unseren Plänen einverstanden sein musste. Das war nicht nur ihrer Mutter, sondern auch mir eine Herzensangelegenheit. Wenn wir eine Familie werden wollten, musste jede und jeder Einzelne ihren oder seinen Platz finden und mit diesen Entscheidungen glücklich sein können. So kam der Tag, an dem Elea uns während einer Autofahrt mit ihren ganz eigenen Worten ihren Segen gab. „Ich habe immer schon gespürt, dass ihr euch lieb habt. Aber jetzt spürt ihr das auch und das finde ich schön.“ Meine Träume hatten sich erfüllt. Und Schema F? Konnte es doch noch zu meinem Plan A werden? Möglich. Aber zuvor stand unsere Liebe vor ihrer wohl größten Geduldsprobe – der Zeit nach meiner großen Aufbau-OP.

Als Miriam meine Eltern nach Potsdam begleitete, wusste ich, dass es ihr ein ernsthaftes und aufrichtiges Anliegen war, bei mir zu sein. Aber nicht nur, als sie mich aus der Klinik abholte, was eine mehr als gelungene Überraschung war, und während der 16-stündigen Autofahrt, sondern auch während meines schmerzhaften Heilungswegs und den Tiefen, die ebenso ihre Daseinsberechtigung in unserer Beziehung hatten wie die Höhen. Ich musste keine Zweifel mehr daran haben, dass sie bei mir sein wollte.

Die erste Zeit nach der OP war als Paar aufregend und neu

Ich war verliebt, lernte ein völlig neues Körpergefühl kennen und war das erste Mal mit einer Frau wirklich intim. Mein erstes Mal. Mit 29 Jahren. Wobei intim zu sein für mich nicht per se bedeutet, Sex zu haben. Nicht nur, weil es mir früher nicht möglich gewesen war, körperliche Liebe zu erfahren – ich hatte auch nie aufrichtige, wahrhaftige Intimität erlebt. Aber dann kam Miriam.

Durch sie lernte ich die Bedeutung dieses Wortes kennen und mit ihr bekam Intimität einen noch essenzielleren Stellenwert in meinem Leben. Vielen Momenten wollte ich diese Bezeichnung schenken: Es war intim, wenn wir gemeinsam weinen und schweigen konnten. Intime Momente waren Gespräche, die bis tief in die Nacht dauerten und noch tiefer in die Seele reichten. Über die Vergangenheit, die uns geprägt hatte, und unsere Zukunft, über die wir gemeinsam philosophierten. Orte, Gerüche und Augenblicke, die mich an meine Kindheit erinnerten und die ich mit ihr auf neue Art und Weise erlebte. Miriam ließ mich Intimität spüren – auch wenn wir uns nicht körperlich nahe waren.


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