Der Mann, der einmal ein Mädchen war – ein Buchtipp

Ricardo wurde als Anja geboren. Schon früh wusste er, dass seine Seele und sein Körper nicht zusammenpassen. Doch bis er den Mut fand, sich zu outen und seine wahre Identität zu leben, vergingen viele Jahre. Jahre voller Angst, Jahre des Versteckens, des Doppellebens, des Ertragenmüssens. Seine bewegende Lebensgeschichte hat Ricardo nun aufgeschrieben.

Aus Kapitel 9: Miriam und ich – Liebe, die in kein Schema passt

Heiraten, ein Haus bauen, einen Baum pflanzen, Kinder kriegen – Schema F war nie mein Plan A gewesen. Obwohl ich schon als Kind den Wunsch gehabt habe, zu heiraten, eine eigene Familie zu gründen und mir ein Zuhause zu schaffen. Aber ich hatte auch damals bereits große Bedenken, dass sich dieser Traum in meinem Leben erfüllen würde. Warum? Weil ich mir diesen Traum nicht als Anja, sondern als Ricardo erfüllen wollte. Und obwohl ich als Kind intuitiv
gewusst habe, dass ich einmal auch körperlich ein Mann sein würde, und das tiefe Vertrauen in mich und mein zukünftiges Leben gehabt habe, kamen mit den Jahren immer mehr Zweifel dazu. Zweifel, ob ich das alles wahr machen sollte und meinen Träumen Taten folgen lassen könnte. Ich wurde immer unsicherer und misstrauischer und sah mich selbst als Opfer der Umstände, nicht mehr als Schöpfer meines Lebens.

In diesen Jahren begleitete mich vor allem das Gefühl der Einsamkeit

In der Schule, bei meiner Ausbildung zum Polizisten, auf dem OP-Tisch. Ich hatte immer das Gefühl gehabt, alles alleine schaffen zu müssen und dass es sowieso keine Partnerin in meinem Leben geben würde, die ehrliches Interesse an mir und meinen Träumen hätte. Nicht einmal ich selbst wollte mich mit mir auseinandersetzen. Bis zu jenem Zeitpunkt, an dem ich mich entschieden hatte, mein wahres Ich zu zeigen. Mich zu outen, zu mir selbst zu stehen, nach Hilfe zu fragen und sie auch anzunehmen.

Als ich den Entschluss gefasst hatte, meinen Traum nicht mehr zu sabotieren, sondern ihm entgegenzugehen, suchte ich nach dem Glück – in mir selbst. Ich kam zu der Überzeugung, dass ich die Liebe eines anderen Menschen nur erkennen konnte, wenn ich wusste, wie Selbstliebe aussieht. Dass ihr Abhängigkeit zum Verwechseln ähnlich sieht und dass ich nur wirkliche Erfüllung spüren kann, wenn ich mein Glück von einem einzigen Menschen abhängig mache – mir selbst. Keine zweite, bessere Hälfte muss mich jemals vervollständigen, weil ich damals begriff, dass ich selbst bereits vollständig war.

Ich war mir selbst der wichtigste Mensch

So wurde ich mental zu dem Mann, der ich sein wollte und von dem ich immer schon gewusst hatte, dass er in mir existiert. Und mit jeder Operation zeigte sich das auch mehr im Außen, verabschiedete sich Anja mit ihren Träumen und übernahm Ricardo die Verantwortung für sein Leben. Die Vorstellungen, die ich schon als Kind gehabt hatte, wurden immer realer, und auch das Urvertrauen in mich und meine Bestimmung kehrte zurück. Ich entwickelte einen immer stärker werdenden Willen, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Mein Lebensweg ähnelte zur Zeit meiner Geschlechtsangleichung eher einer Achterbahnfahrt oder einem wilden Ritt als einem Fluss. Mit Höhen, die mir Flügel schenkten, und Tiefen, die mich wieder den Boden unter meinen Füßen spüren ließen. Und einem Menschen, der sich mit mir den Wagen teilte, sich anschnallte und mir Mut machte, dass es nach dieser ersten Abfahrt bestimmt ganz hoch hinaus gehen würde. Dieser Mensch war Miriam.

Wenn sich Seelen begegnen

Voneinander gewusst haben wir schon unser halbes Leben lang. Wir kannten uns bereits als Kinder. Unsere Väter sind Freunde, unsere Familien trafen einander zu den unterschiedlichsten Anlässen und das Dorf, in dem wir lebten, war klein genug, um sich nie wirklich aus den Augen zu verlieren. Bis sich Miriams Eltern trennten, als sie neun Jahre alt war, und sie mit ihrer Mutter das Dorf verließ. Zehn Jahre später, als ihr Vater nach Oberösterreich zurückkehrte und Miriam und ihre Mutter wieder nach Silz zogen, hatten sich unsere Leben in gegensätzliche Richtungen entwickelt. Ich wollte als Polizist Karriere machen und hatte Mühe, meine beiden Identitäten unter einen Hut zu bringen. Miriam eröffnete mit ihrer Mutter einen Friseursalon und führte zusammen mit ihrem damaligen Lebenspartner ein sehr konventionelles Leben – wie man es von ihr erwartete.


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