Hochsensibel: Angeboren oder erworben?

Leben mit Hochsensibilität: Versöhnung mit dem Anderssein. Ein Auszug aus dem Buch “Zwischen Begabung und Verletzlichkeit” von Antje Sabine Naegeli

Diese Frage beschäftigt wohl alle, die eine stark ausgeprägte Empfindsamkeit besitzen. Die amerikanische Psychologin Elaine Aron und einige andere gehen davon aus, dass es sich bei der Hochsensibilität mit großer Sicherheit um eine genetisch bedingte Wesenseigenschaft handelt, also um Veranlagung. Da es aber keine hinreichenden wissenschaftlichen Untersuchungen gibt, gilt es, mit dieser Aussage zurückhaltend zu sein. Wir können uns zum jetzigen Zeitpunkt nur auf Beobachtungen stützen.

In der Tat gibt es Kinder, die schon als Säuglinge durch ihre besondere Zartheit auffallen, die etwa deutlich früher und intensiver auf Geräusche, grelles Licht, körperliche Missempfindungen reagieren als andere. Bei ihnen liegt der Gedanke nahe, dass es sich um eine genetisch bedingte Hochsensibilität handeln könnte. Diskutiert wird etwa, dass der Hirnbereich, der für die Verarbeitung von Reizen zuständig ist, in seiner dämpfenden Funktion unterentwickelt sein könnte. Wir müssen aber auch berücksichtigen, welchen Einflüssen Säuglinge womöglich während der Schwangerschaft ausgesetzt waren, denn wir wissen heute, dass sich das Ergehen der Mutter pränatal – also vorgeburtlich – auf das werdende Kind auswirkt, sodass es diese Erfahrungen bereits bei der Geburt mitbringt.

Andererseits sehen wir Erwachsene, die hervorstechen durch eine sehr zarte Konstitution. Der Körperbau ist äußerst feingliedrig, die Haare sind ebenfalls extrem fein, die Stimme ist eher zart als kraftvoll. Es mangelt in jeder Beziehung an Belastbarkeit. Der ganze Mensch wirkt fragil. Was liegt näher, als dass wir in einem solchen Fall eine genetisch bedingte Hochsensibilität vermuten? Dennoch können wir im Normalfall keineswegs von der körperlichen Konstitution auf das Vorliegen oder Fehlen einer Hochsensibilität schließen. Es gibt viele Menschen, denen die stark erhöhte Empfindsamkeit nicht äußerlich angesehen werden kann.

Wenn ich mir die zahlreichen mir bekannten Menschen, die ich zu den Hochsensiblen rechne, vor meinem inneren Auge vorüberziehen lasse, ihre Lebensgeschichten bedenke, legt sich mir die Vermutung nahe, dass der deutlich größere Teil von ihnen die Hochsensibilität erworben hat, obwohl eine feine Grundkonstitution eine Rolle spielen mag.


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