Sie konnte ihm nicht verzeihen, dass er das Kind nicht wollte

Eine Geschichte über Schuld und Unschuld

Judiths Geschichte ist eine Geschichte über Schuld und Unschuld, über empfundene Schuld und Unschuld, über die unbewussten und bewussten Zuweisungen von Schuld, eine Geschichte von emotionalen Verstrickungen, in die jeder verwickelt werden kann, der an einem Tag in seinem Leben eine Entscheidung trifft und nicht ahnt, dass ihn diese Entscheidung sein Leben lang verfolgt, dass die Konsequenzen der Entscheidung ihn verfolgen: hier ein Kind, das ungeborene Kind, das Judith verfolgt, das sich zwischen Jan und sie gestellt hat, so sagt Judith.

„Es hat sich nicht zwischen uns gedrängt, darauf lege ich Wert. Das hört sich nämlich so an, als habe das Kind uns voneinander entfernt. Ich formuliere bewusst, dass es sich dorthin gestellt hat, genauer, ich habe das getan. Ich habe es hingestellt auf diesen Platz wie eine Figur in einem Brettspiel. Ich will, dass das Kind da ist, ich will die Verantwortung für es tragen und ihm wenigstens in meiner Phantasie ein Bleiberecht in unserer Familie gönnen. Felix und Carl wissen nichts von dem Schwangerschaftsabbruch. Es gibt nur Jan und mich, das Kind ist zwischen uns, das heißt, ich bin nahe bei ihm, Jan ist weit weg.“

Diese Distanz bestimmte auch den Alltag von Jan und Judith, fast ein halbes Jahrzehnt lang, das unsichtbare Kind war wie ein Geist, der das Leben der Familie überschattete. Jan hat Judith keine Vorwürfe gemacht, er hat die „Sache“ verdrängt, er hat gehofft, dass eines Tages alles wieder ist, wie es war: gut.

Judith hat, nachdem ihre Trauer über den Verlust des Babys nicht nachließ, eine Therapie begonnen, ihre Hausärztin riet ihr dazu, weil Judith kaum noch eine Nacht schlafen konnte, keinen Appetit mehr hatte. Judith sagt: „Ich war bei der Therapie nicht richtig bei der Sache, ich dachte, was hilft dir die Therapie, das Gerede? Das bringt dir dein Kind nicht zurück.“ Die Psychologin hat Judith während einer Sitzung gebeten, plastisch zu beschreiben, wo Judith steht, wo Jan, wo das Kind – Rosa.

„Sie machen es sich noch schwerer, weil sie dem Kind einen Namen gegeben haben. Es ist für Sie und Ihren Mann schwerer“, hat die Psychologin betont. Judith weiß das, sie weiß, dass es Jan quält, wenn sie immer wieder von Rosa spricht. „Vielleicht tue ich das auch, um ihn zu quälen“, sagt Judith nachdenklich. „Ich quäle mich selbst, ich habe wahnsinnige Schuldgefühle, ich will, dass Jan auch welche hat“, fügt sie fast trotzig hinzu. Für einen Augenblick wirkt es, als würde sie Jan hassen.


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