Sind wir die „Generation Therapie“?

Immer mehr junge Menschen nehmen psychotherapeutische Hilfe in Anspruch. Sind wir die Generation Therapie? Und wirkt sich unser seelisches Befinden auf unsere Beziehungen und die Partnersuche aus – oder andersherum?

Was denken Sie über folgende Aussagen – „wahr“ oder „falsch“?

  1. Etwa jeder sechste Student in Deutschland ist psychisch krank.
  2. Zwischen 2007 und 2017 sind die Behandlungszahlen bei 13- bis 18-Jährigen wegen Depressionen um 120 Prozent gestiegen.
  3. Etwa 17 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland sind psychisch auffällig.
  4. Rund jeder fünfte „Millenial“ (geboren zwischen 1978 und 1999) in einem Anstellungsverhältnis in den USA ist depressiv.

Sie ahnen es wohl bereits: Alle Aussagen sind wahr. Genauer gesagt: wissenschaftlich belegt (die Quellen finden Sie am Ende des Artikels).

Sind wir die „Generation Therapie“?

Gewiss, diese Zahlen sind beunruhigend. Selbst wenn man bedenkt, dass psychische Krankheiten wie Depressionen oder Angststörungen heutzutage weniger stigmatisiert werden als noch vor einigen Jahrzehnten, und die Bereitschaft, sich professionelle Hilfe zu suchen, gestiegen ist (was gestiegene Behandlungszahlen miterklärt), erscheint es legitim zu konstatieren: Irgendetwas ist faul in unserer Gesellschaft. Oder vorsichtiger ausgedrückt: Es wäre schön, wenn es anders wäre.

Diagnose vs. Erkrankung

Fakt ist allerdings auch, dass in den letzten zwanzig Jahren zwar die Diagnosen psychischer Erkrankungen zugenommen haben, allerdings nicht die Häufigkeit psychischer Erkrankungen selbst (vgl. z.B. BKK Gesundheitsatlas 2015). Das heißt: Immer mehr Menschen holen sich Hilfe (und „erhalten“ in diesem Zuge eine Diagnose), aber nicht mehr Menschen leiden an psychischen Erkrankungen als früher.

Zu erklären, warum die Verbreitung psychischer Erkrankungen relativ stabil bleibt, ist gar nicht so einfach. Häufig kann man ja die Stoßseufzer junger Menschen, insbesondere aus einem urbanen Umfeld, vernehmen, heutzutage sei alles tausendmal komplizierter und stressiger als früher:

  • Mehr Stress in Schule, Ausbildung und Studium
  • Höherer Konkurrenz-, Leistungs- und Erfolgsdruck, einhergehend mit Versagensängsten
  • Eingeforderte Flexibilität und Mobilität
  • Cybermobbing
  • Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen, verursacht oder mitbedingt durch die zunehmende Digitalisierung und ungehemmten Medienkonsum, allen voran Social Media
  • Dauererreichbarkeit und Nicht-abschalten-können (teils wörtlich zu nehmen)
  • Fragmentierte Geschlechterbilder, die keine Orientierung mehr bieten
  • Zunehmender Verlust familiärer Strukturen
  • Bindungsstörungen (vgl.  auch dieGeneration beziehungsunfähig“)
  • „Stressfaktor Großstadt“ (Überangebot, Umweltbelastung, Vereinsamung usw.)
  • Zunahme von Individualität und Freiheit(en zu etwas) auf Kosten von (Zusammen-)Halt gebenden Werten, Normen und Grenzen
  • U.v.m.

Ohne Frage, viele dieser Aspekte mögen tatsächlich mitursächlich für psychische Probleme sein. Allerdings haben hierzulande auch zahlreiche so genannte Risikofaktoren für psychische Erkrankungen seit dem Zweiten Weltkrieg drastisch abgenommen, z.B. (vgl. Ulrich Voderholzer):

  • Armut
  • Arbeitslosigkeit
  • Beengter Wohnraum
  • Kriegstraumatisierungen
  • Autoritäres Erziehungsverhalten
  • Schwere körperliche Verletzungen (u.a. gestiegene Unfallprävention)
  • U.v.m.

Schlussfolgern ließe sich also mit Blick auf gesellschaftliche Risikofaktoren für psychische Erkrankungen: Heute ist nicht alles besser als früher, aber früher war auch nicht alles besser als heute.


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