Jeder sucht, aber niemand findet – Berlin als Hauptstadt der Einsamkeit

Ist der Berlin-Blues mittlerweile zum Lebensgefühl in der Hauptstadt geworden? Autorin Jule Blogt über den fehlenden Blick für Mitmenschen und die Einsamkeit an der Spree

Häuserzeilen ziehen vorbei. Sie wirken schmutzig, wie mit einem grauen Schleier bedeckt. Ihre Eintönigkeit wird nur selten durch einen Farbtupfer unterbrochen. Umso länger ich Berlin durch die trüben Scheiben der S-Bahn betrachte, desto nachdenklicher werde ich. Berlin, das Tor zu einer Welt voller Möglichkeiten. Das Tor zu einer Welt voller Menschen, die alleine besser zurechtzukommen scheinen. Berlin ist die Hauptstadt der Singles, die Hauptstadt der Suche, ohne richtig fündig zu werden, die Hauptstadt des Single-Blues.

Umso größer meine Liste an Kontakten wurde, desto einsamer fühlte ich mich

Als ich vor einigen Jahren das erste Mal die Datingapp Tinder installierte, dachte ich, wer in Berlin alleine ist, muss selbst schuld sein. Ein ganzes Wochenende lang gab ich mir Mühe, alle vorgeschlagenen Profile „durchzuwischen“. Es gelang mir nicht. Berlin erschien mir wie ein großer Magnet, der zu jeder Tages- und Nachtzeit Menschen anzieht. Mit dieser Illusion im Kopf warf ich mich ins Partyleben der Großstadt. Das Berghain, das RAW-Gelände in Berlin-Friedrichshain, die Feierecken der Stadt sind in der ganzen Welt bekannt. Unmengen sich im Rhythmus bewegender Körper zuckten im blitzenden Licht der Tanzflächen. Ich fühlte mich, als könnte ich alles erreichen. Ich könnte jeden einzelnen der um mich herumwippenden Männer ansprechen und hätte damit die Chance auf die ganz große Liebe. Unzählige Male nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und hauchte ein schüchternes „Hi“ ins Ohr meiner Auserwählten. Mein Smartphone füllte sich mit Nummern, die ich schon nach kurzer Zeit keinem Gesicht mehr zuordnen konnte. Um zumindest grob rekonstruieren zu können, woher ich die Herren in meinem Telefonbuch kannte, fügte ich dem Kontakt den Ort hinzu, an dem ich ihn kennengelernt hatte. Doch umso größer meine Liste an Kontakten wurde, desto einsamer fühlte ich mich.

Der „Berlin-Blues“ – wie ein grauer Schleier über meinem Gemüt

Wie konnte es sein, dass ich, obwohl ich am laufenden Band Menschen kennenlernte, eine Leere in mir spürte? Das Gefühl, welches die Hauptstadt in mir auslöste, während ich auf der Suche nach Liebe war, nannte ich meinen „Berlin-Blues“. Er stellte sich ein, sobald ich einen Fuß in die Innenstadt setzte. Der „Berlin-Blues“ legte sich wie ein grauer Schleier über mein Gemüt, so wie sich der Stadtdreck einer langen Partynacht auf den Gehwegen verteilte. Ich begann Menschen nicht mehr anzuschauen, sondern durch sie hindurch zu blicken. Als würde ein latentes Rauschen verhindern, zur Persönlichkeit des Gegenübers durchzudringen. Warum sollte man auch? Berlin ist die Stadt der Anonymität. Sich noch einmal unverabredet zu begegnen, ist so gut wie unmöglich. Das schlägt sich im Umgang miteinander nieder. In der Hauptstadt beschäftigt man sich mit sich selbst und nur ab und zu mit der Hülle seiner Mitmenschen.


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