Buchtipp „Romeo und Julius“

»Okay«, sagt sie und legt ihren Kopf auf meine Schulter. »Aber vergiss nicht: Es soll auch Spaß machen!«

»Ja, Schwesterherz!«

Kilometer 1

Der Startschuss zum Marathon fällt am Freitagabend in einer kleinen Galerie in Berlin Mitte. Kandidat Eins heißt Nils, ist von Beruf Fotograf und nimmt mich auf eine Vernissage mit.

»Die ausstellende Künstlerin ist eine Freundin«, flüstert er mir im Reingehen zu, aber das hätte er gar nicht müssen, denn er begrüßt sie mit einer dicken Umarmung und Küssen, die an ihren Wangen vorbeifliegen, bevor er mich vorstellt. Er stellt mich nicht als Tinder-Date vor, sondern mit einer kleinen Vita über mich, charmant in ein Kompliment verpackt, was ich richtig schön finde. Im Gesamten überrascht mich die Situation positiv, denn obwohl hier von außen alles so aussieht wie immer auf hippen Galerieeröffnungen in Mitte – große, reinweiße Wände, weit auseinander gehängte Kunstwerke, die anscheinend sehr viel Raum zum Wirken brauchen, ein DJ mit Szene-Promi-Status, Gesichter, die man irgendwann schon mal bei Instagram gesehen hat und Algensalat im Glas –, sind die Menschen mehr herzlich als distanziert. Vielleicht kommt mir das aber auch nur so vor, weil Nils hier alle zu kennen scheint und mich jedes Mal aufs Neue wieder so familiär vorstellt, als stünde es gar nicht zur Debatte, ob ich dazugehöre oder nicht. Ich gehöre heute Abend zu ihm. Das macht Spaß, und Nils ist aufmerksam, sorgt immer im richtigen Moment für neue Getränke, was ein großes Plus für mich ist, und wir können richtig gut über unser kreatives Arbeiten reden, ohne dass wir in Floskeln verfallen, die man sonst so sagt, wenn man sich kaum kennt. Wir versuchen beide nicht vorzugeben, jemand zu sein, der wir nicht sind, und so quatschen wir zwischendrin auch über die Kardashian-Familie und darüber, warum Khloé unsere Favoritin ist.

Kilometer 8

Nach der Vernissage ziehen wir mit einer Handvoll Künstlerleuten weiter in die Neue Odessa Bar, die ich eigentlich ebenso wie eine Ausstellung ungern aufsuche, weil mich die Menschen dort ein bisschen einschüchtern und mich die Türsteherin jedes Mal so anschaut, als sollte ich die Hausnummer noch mal checken, ob ich auch wirklich richtig bin. Doch selbst in dieser Bar geht es mir heute gut. Der Mann an meiner Seite tritt so selbstsicher auf, dass ich gar nicht anders kann, als mich auch so zu fühlen.

Als ich merke, dass sich unser gemeinsamer Abend dem Ende neigt, stelle ich Nils sehr beschwipst eine von Pias Fragen: »Was magst du an dir?«

»Mittlerweile mag ich, glaube ich, meine Nase am liebsten«, sagt er und fährt sich durch seine blonden Haare. »Früher wurde ich für die gehänselt, weil die doch sehr groß ist und so schief im Wind steht wie der Turm von Pisa, aber heute finde ich sie echt gut. Die gibt meinem weichen Gesicht ein bisschen Charakter.«

»Aber dass deine Nase groß ist, musstest du jetzt schon betonen, oder?«, kichere ich wie jemand, der zum ersten Mal in seinem Leben eine sexuelle Anspielung macht. »Ja, das musste jetzt schon sein«, sagt er und küsst mich. Der Kuss ist einfühlsam und warm. Es ist, als würden meine Lippen in ein weiches Bett fallen, das ergonomisch auf sie angepasst ist. Ganz perfekt.

»Was ich dir aber auch noch sagen muss«, fährt er fort, als er auf seinem Stuhl wieder etwas zurückrutscht. »Ich bin in einer offenen Beziehung.«

Kilometer 14

Zehn Stunden, nachdem ich mich von Nils verabschiedet habe, treffe ich Michi mit müden Augen am Löwentor-Eingang des Zoologischen Gartens zu einem gemeinsamen Mittag. Michi ist Kandidat Zwei meines Marathons, er ist gebürtiger Österreicher, kommt aus Graz und arbeitet hier seit einem halben Jahr als Programmierer in einem kleinen Start-up. Unser Einstieg ist holprig, was aber auch daran liegen könnte, dass der Restkater meine Gefühlslage gerade noch ziemlich nach unten zieht. Nach einer Stunde lockert sich die Stimmung auf, als wir im Streichelzoo mit Futter aus dem Automaten von Zwergziegen umringt werden und eine der Ziegen immer wieder an mir hochspringt, um sich gegen die anderen durchzusetzen. Was ich am Anfang lustig und süß finde, hinterlässt am Ende fiese braune Spuren auf meiner Jeanshose.


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