Die ungleichen Freundinnen

Sarah ist 38 Jahre alt und hat noch nie in ihrem Leben Liebeskummer gehabt. Ihre beste Freundin Paula, die beiden kennen sich seit der Grundschulzeit, ist 37 Jahre alt und kann gar nicht sagen, wann sie mal KEINEN Liebeskummer hatte.

Eigentlich nur dann nicht, wenn sie frisch verliebt gewesen ist. Das hat allerdings nie lange angehalten. Nach ein paar Monaten war wieder Schluss und es waren immer die Männer, die Schluss gemacht haben. Paula hat sich in diesen Beziehungen regelrecht daran abgearbeitet, auch etwas vom großen Kuchen der Liebe abzukriegen. Sie hat um die Zuneigung der Männer regelrecht gekämpft. Paula wünscht sich nichts mehr als ein einziges Mal richtig geliebt zu werden, ohne dass sie sich selbst dafür so unendlich anstrengen muss. Am liebsten ein einziges Mal, das für immer währt. Aus dem Augenblick eine Ewigkeit machen, das ist Paulas Sehnsucht.

Sie träumt vom Heiraten

Für Sarah ist es der Normalfall, dass sie geliebt wird. Es ist ihr im Gegenteil oft zu viel an Liebe. Eine Heirat steht bei ihr nicht ganz oben auf der Liste, eher unten. Nun könnte man denken, dass Sarah besonders schön ist, ist sie nicht. Sie ist attraktiv, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Vielleicht sieht Paula sogar noch ein bisschen besser aus. Beide Frauen sind intelligent, haben einen anspruchsvollen Job, beide haben das, was man einen guten Charakter nennt. Sarah und Paula gehen durch dick und dünn. Sarah hat schon etliche Male schwere Phasen mit Paula durchgestanden, ihre Tränen getrocknet, ihr Mut gemacht. Paula hat stets auf Sarah gesetzt, fast wie in einer Ehe. Aber seit ein paar Wochen spürt sie, wie sie negative Gefühle gegenüber ihrer Freundin entwickelt. Sarah merkt das und ist enttäuscht. Sie glaubt, dass Paula auf sie neidisch ist und stellt die Freundschaft in Frage. Paula schwört darauf, dass es kein Neid ist, der sie treibt, sondern dass eben diese unbändige Sehnsucht nach Liebesglück übermächtig geworden ist – und ihre Selbstzweifel in gleichem Maße übermächtig. Sie sieht bei Sarah seit etlichen Jahren, was geht in der Liebe und sie gönnt es Sarah von ganzem Herzen.

Aber Paula möchte es eben auch „haben“

„Ich fühle mich mit Paula auf eine Weise verbunden, die für mich mehr als Freundschaft ist“, sagt Sarah. „Es ist eine Art von Liebe. Diese Liebe fühlt sich für mich gar nicht so anders an, als wenn ich einen Mann liebe. Es ist ein unglaublich tiefes Gefühl, das ich für Paula empfinde. Ich bin durch und durch heterosexuell, doch was meine Liebesfähigkeit und meine Liebespraxis angeht, unterscheide ich nicht zwischen der Liebe zu einem Partner und der zu einer Freundin. Natürlich nimmt nicht jede Freundschaft einen nur vergleichbar wichtigen Platz ein, wie die zu Paula. Diese üblichen Frauenfreundschaften interessieren mich auch nicht. Ich bevorzuge intensive Freundschaften. Seichte Geschichten sind langweilig, da bin ich lieber allein. Mit Beziehungen zu Männern halte ich es genauso. Lieber keine Beziehung als eine seichte. Paula sagt oft – sie sagte es früher fast bewundernd, jetzt kommt es mir neidisch vor –, „Mensch, Sarah. Du hattest noch nie Liebeskummer.”

Vielleicht hatte ich keinen, weil meine Selbstliebe ausgeprägt ist? 

Ich habe allerdings jetzt „Liebeskummer“. Wegen Paula. Das begreift sie nicht. Ich habe den Eindruck, dass sie mich abweist, weil ich etwas habe, was sie nicht hat. Als wenn sie sich an mir rächen will. Aus ihrer Sicht müsste ich von früh bis spät feiern, dass ich keine Probleme mit Männern habe. Vielleicht habe ich die nicht, weil ich das einfach nicht derart krass hochhänge wie Paula. Männer sind nicht das Wichtigste auf der Welt. Freundschaft ist das Wichtigste. Auch in der Beziehung mit einem Mann ist der Freundschaftsaspekt der wesentliche. Und Freundschaft heißt nach meinem Verständnis, dass man dem anderen alles gönnt. Es ist in der letzten Zeit ein paar Mal vorgekommen, dass ich mit Paula zusammensitze, eine Nachricht von irgendeinem Typen kriege und genervt bin. Und Paula wartet angespannt auf eine Nachricht von irgendeinem Typen, die nicht kommt, und ihr schießen die Tränen in die Augen, dass ich es leicht habe und sie schwer. Dass ich nie auf Nachrichten warten muss. Ich kriege in dem Moment ein wahnsinnig schlechtes Gewissen. Ich möchte dann weg.“ 

Paula ist sensibel genug, um zu spüren, wie sich Sarah innerlich von ihr entfernt

Beide Freundinnen spüren, dass sie sich voneinander entfernen. Paula weiß, dass sie mit ihren Reaktionen dafür die Verantwortung trägt. Dass sie quasi auf dem Rücken ihrer Freundin ihr eigenes Unglück austrägt. Paula möchte das nicht, sie hat jedoch die Kontrolle verloren. Sie sagt von sich, dass sie sich in der Rolle des Opfers nicht mehr gefällt. Dass sie sich kaum selbst noch aushält. 


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