Die ungleichen Freundinnen

Sarah ist 38 Jahre alt und hat noch nie in ihrem Leben Liebeskummer gehabt. Ihre beste Freundin Paula, die beiden kennen sich seit der Grundschulzeit, ist 37 Jahre alt und kann gar nicht sagen, wann sie mal KEINEN Liebeskummer hatte.

„Ich wünsche mir etwas von Sarah, dass vielleicht zu viel verlangt ist. Dass sie erträgt, wie ich gerade bin, obwohl sie sich fühlen muss, als habe sie an mir eine Schuld abzutragen. Sie ist klug, gebildet, hat jede Menge Bücher gelesen, auch psychologische Sachbücher. Sie müsste doch sehen, dass sie gewissermaßen eine Stellvertreterfunktion für mich hat. Ich meine nicht sie persönlich. Ich vergleiche mich mit allen Frauen, die aus meiner Sicht ein gutes Leben haben. Weil sie Glück in der Liebe erfahren. Ich kann auch noch abstrahieren. Natürlich höre ich mir genau an, was Sarah mir als Freundin ans Herz legt. Nämlich, dass sich meine Probleme erledigen, wenn ich mich selbst liebe. Und dem Geliebtwerden von einem Mann nicht mehr die zentrale Rolle zuweise.

Ich habe schon eine Therapie gemacht

In dieser war Selbstliebe exakt das Thema. Ich würde durchaus behaupten, dass ich mit aller Kraft daran gearbeitet habe. Ich dachte, jetzt bin ich so weit, nun liebe ich mich selbst und bin nicht mehr bedürftig. Und kurze Zeit später habe ich wieder eine Enttäuschung erlebt, wurde von einem Mann abgewiesen. Ich bin zutiefst verzweifelt. Ich bin in einer existenziellen Krise und habe totale Angst, dass Sarah mich auch noch fallen lässt. Mehr kann ich nicht tun, als ständig zu wiederholen, dass es nichts mit ihr zu tun hat. Dass ich weiß, dass ich etwas an ihr auslasse. Dass ich sie fast benutze und dass ich mich dafür sogar schäme – und dass ich die Sache trotzdem nicht im Griff habe. Für mich ist Sarah auch nicht „nur“ eine Freundin, ich liebe sie.“ 

Kontaktabbruch, um die Freundschaft zu retten?

Sarah und Paula überlegen sich, dass es vielleicht gut wäre, wenn sie sich eine Weile nicht sehen und nicht austauschen. Nach einer Woche vermissen sich die Freundinnen. Sarah erträgt es nicht, mit dem Wissen durch ihren Alltag zu gehen, dass Paula sich quält. 

Sarah sagt: „Im Grunde genommen ist die Liebe in einer Freundschaft genauso anspruchsvoll wie die Liebe in einer Beziehung. Auch in einer Freundschaft muss man Beziehungsarbeit leisten. Ich habe mich mit den verschiedenen Theorien von Freundschaft befasst. Generell gilt, das sagt schon der Philosoph Aristoteles, ist die beste Freundschaft, die unter Gleichen. Unterschiede, zum Beispiel welche, die die Lebensführung angehen oder unterschiedliche Überzeugungen, was Werte betrifft, trennen Freunde und machen daraus „Bekannte”. Und es sei wichtig, sagt der alte Grieche weiter, dass man sich keinerlei Nutzen von einer Freundschaft verspricht. Das wäre dann eine Geschäftsfreundschaft. Das sagt nicht Aristoteles, das sage ich. Bei Paula und mir hat keine auf den Nutzen geschaut, bei uns war es ein Geben und Nehmen. Ich habe Paula regelmäßig bei ihrem Liebeskummer unter die Arme gegriffen. Sie hat mir auch in vielen Punkten regelmäßig unter die Arme gegriffen. Wir rechnen das nicht auf. Es läuft. Es ist ein wunderbarer Fluss der Freundschaft. 

Was uns belastet, das ist die Ungleichheit in der Lebensführung

Es wäre sicher auch ein Problem, wenn ich arbeitslos wäre und kein Geld hätte und Paula würde jeden Monat für ihren Job eine Riesensumme auf ihr Konto kriegen. Da käme ich mir auch komisch vor. Beruflicher Erfolg ist mir nämlich extrem wichtig. Wenn ich mich hier reden höre, spüre ich eine Welle von Zuneigung für meine Freundin in mir aufsteigen und das starke Bedürfnis, Paula zu unterstützen. Sie soll endlich glücklich sein! Vielleicht ist eine Zeit in unserer Freundschaft gekommen, wo die Freundschaft Paulas Probleme nicht mehr auffangen kann. Wo diese Themen auf alle Fälle auch noch woanders bearbeitet werden müssen. Es spricht doch nichts dagegen, dass Paula eine zweite Therapie macht. Manche Menschen, und das sind nicht die schlechtesten und die schwächsten, sondern eher die intelligenten und sensiblen Menschen, brauchen mehrmals im Leben jemanden, der sie professionell auf den Weg bringt, wenn sie vom Weg abgekommen sind oder ihn noch suchen. Die professionelle Wegweisung nimmt den Druck aus den Beziehungen, die dieser Mensch sonst führt.“ 

Paula ist dankbar für die Anregung von Sarah

Sie hat auch schon an eine Therapie gedacht, doch ihre Stimmung ist so getrübt, dass sie denkt, dass alles keinen Sinn hat. „Und an der Stelle will ich jetzt ansetzen“, sagt Paula. „Sarah meint, dass dieses starke Gefühl von Sinnlosigkeit Anzeichen für eine reaktive Depression sein könnte. Vielleicht hat sie recht. Mit einer Depression bin ich bei ihr an der falschen Adresse. Wie soll sie mir als Freundin helfen, wenn ich das ganze Leben in Frage stelle – und damit natürlich auch unsere Freundschaft. Das ist eine Überforderung. Ich sehe, wie sehr ich die Freundschaft mit Sarah schätze. Wie wertvoll diese Verbindung ist. Damit wir unsere Freundschaft wieder genießen können, ohne uns permanent zu verletzen, kümmere ich mich jetzt um mein Seelenheil.

Auch für das Gelingen der Freundschaft ist Selbstliebe wesentlich

Wer weiß, wenn ich mich mit der Unterstützung einer Therapeutin in der Selbstliebe übe, es noch einmal richtig angehe, vielleicht klappt es in Zukunft auch mit der Liebe mit Männern besser. Und Sarah und ich sitzen eines Tages abends zusammen und es ist uns beiden wurscht, ob wir Nachrichten von irgendwelchen Typen kriegen. Vielleicht habe ich dann das, was Sarah in Wirklichkeit am meisten hat: Sie hat sich selbst, sie genügt sich selbst. Sie ist sie selbst. Vielleicht geht es nicht darum, etwas zu haben, sondern etwas zu sein.“ 


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