Hochsensibel – oder einfach nur neurotisch?

Manche Menschen sind tatsächlich lichtempfindlicher als andere, reagieren empfindsamer auf Berührungen, spüren Dinge, die anderen verschlossen bleiben – manche retten sich mit einer „Scheindiagnose“ in die Rolle des „Besonderen“. Darum fragen wir, wie der Prinz im gleichnamigen Märchen: Gibt es sie wirklich, die Prinzessin auf der Erbse?

Er hatte es endgültig satt, immer Rücksicht auf sie nehmen zu müssen. Dieses ständige Genörgel, die Musik ist zu laut, sie braucht Ruhe und Zeit sich auszuruhen. Irgendetwas tut ihr ständig weh oder sie hat wieder „so ein komisches Gefühl“, dass etwas nicht stimmt oder er ihr doch irgendetwas verschweigt. Abends mal ausgehen oder Freunde treffen, keine Chance. Entweder ist sie zu müde von der Reizüberflutung des Tages, wie sie es nennt, oder in der U-Bahn auf der Fahrt zu den Freunden könnte es ihr zu eng werden und allein schon den Geruch kann sie nicht ertragen. „Wenn da wieder jemand so stark nach Parfum riecht, dann habe ich den ganzen Abend Kopfschmerzen.“ Er mag es einfach nicht mehr hören. Sie sagt, sie kann nichts dafür, sie sei einfach empfindlicher als andere, hochsensibel eben. Und tatsächlich scheint es irgendwie Trend zu sein. Er stößt jetzt immer wieder auf diesen Begriff. Aber soll so sein Leben aussehen, immer auf ihre Befindlichkeiten Rücksicht nehmen zu müssen?

Gibt es das Phänomen Hochsensibilität?

Ja, selbstverständlich. Es gibt Menschen, die sind eben sensibler als andere. Hochsensibilität ist allerdings keine diagnostizierbare Erkrankung, sondern einfach ein Merkmal der Persönlichkeit bzw. „Temperamentsmerkmal höherer sensorischer Verarbeitungssensitivität“. Damit ist der Teil der Persönlichkeit gemeint, der konstitutionell genetisch bedingt ist. Den Begriff prägte Ende der 1990er Jahre die US-amerikanische Psychotherapeutin Elaine Aron. Sie bezeichnete einen Menschen, der aufgrund neuropsychologischer Besonderheiten mehr Reize und Informationen ungefiltert wahrnimmt als andere als „Highly Sensitive Person (HSP)“. Infolge der gesteigerten Sensitivität für Reize kann es zu einer Überstimulation des Gehirns kommen. Betroffene Personen erscheinen häufiger übererregbar und ziehen sich in der Folge zurück, um sich vor weiteren Reizen zu schützen. Die unterschiedliche Disposition, auf Reize der Umwelt mehr oder weniger stark zu reagieren, ist veranlagt. Weder kann man sie sich aussuchen noch antrainieren.

Wie häufig kommt Hochsensibilität vor?

Hierzu lassen sich verschiedene Zahlen finden. Einigen Quellen zufolge, scheint es sich um ein regelrechtes Massenphänomen handeln, von dem bis zu 20 Prozent der Bevölkerung betroffen sind. In dem Fall kann man wirklich nicht mehr von einer Besonderheit sprechen. Andere schätzen die Häufigkeit der Hochsensibilität eher auf ein bis drei Prozent. Damit wären Hochsensible ungefähr so selten wie Menschen mit grünen Augen.

Wie kann ich feststellen, ob ich hochsensibel bin?

Genau hier liegt das Problem bzw. der Grund, warum die Häufigkeitsangaben schwanken. Es gibt bisher keine exakte Definition oder einheitliche Theorie zur Erklärung der Hochsensibilität. Hinzu kommt, dass es kein einheitliches und valides Verfahren zur Feststellung der Hochsensibilität gibt. Anhand der im Internet existierenden Tests kann sich fast jeder als hochsensibel betiteln. Außerdem handelt es sich ausschließlich um Selbsteinschätzungen, die methodisch schwierig bis hoch suggestiv sind. Die Datenlage ist also äußerst mager und taugt nicht, um tatsächlich Klarheit zu bekommen, ob es sich hierbei um ein relevantes Problem, das besonderer Beachtung bedarf oder, wie vor allem aus wissenschaftlichen Fachkreisen zu hören ist, um ein „überflüssiges Störungskonzept“ handelt, das zwar medial zu viel Aufmerksamkeit geführt hat, jedoch ein Phänomen beschreibt, das schwer von anderen diagnostizierbaren Störungen (z.B. affektive Störungen) abgrenzbar ist. So treten die zentralen Merkmale auch bei Erschöpfungszuständen auf. Es besteht demnach also weder Bedarf für eine neue Diagnose noch für die Einführung eines neuen Therapieverfahrens, so die überwiegende Meinung der Wissenschaft. Dennoch ist es gut, um die eigene Empfindlichkeit zu wissen, ob nun mit oder ohne Label oder Kategorisierung.


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