Sex wird überschätzt

Die schlechte Nachricht gleich vorweg: Viele Frauen haben Sex, um geheiratet zu werden, die meisten Männer heiraten, um Sex zu haben. Ein Gastbeitrag von TV-Moderatorin und Autorin Amelie Fried

Sex ist eines der größten, potentiellen Krisengebiete in der Ehe. Die Halbwertszeit der sexuellen Vernarrtheit in den Partner liegt (unabhängig vom Geschlecht) bei ungefähr einem Jahr, dann beruhigen sich die durchgedrehten Hormone wieder, und man kann auch mal wieder an etwas anderes denken, als daran, jetzt sofort mit der bzw. dem Liebsten schlafen zu wollen.

Der akute Zustand der totalen Verliebtheit (der biochemisch gesehen einem Schub von Geisteskrankheit gleicht) klingt allmählich ab und verwandelt sich im besten Fall in eine tiefergehende Zuneigung, die den ganzen Menschen meint. Das heißt nicht, dass man ab einem gewissen Zeitpunkt den Partner weniger anziehend findet, dieser Zustand bleibt bei manchen Paaren für viele Jahre oder so gar für immer erhalten, aber es braucht ein bisschen mehr als den schieren Anblick des geliebten Menschen, um die anfänglichen Stürme der Leidenschft zu entfachen.

Das Problem ist: Bei vielen Frauen braucht es einiges mehr als bei den meisten Männern

Während für viele Männer Sex etwas ist, das zum Leben gehört wie duschen oder Zähne putzen, also etwas, das sie gerne tun, weil sie sich hinterher besser fühlen, träumen viele Frauen von dem ganz besonderen Moment, von der romantischen Inszenierung, der immer neuen, raffinierten Verführung. Sie sind meist irritierbarer, lassen sich leichter ablenken und integrieren das Liebesspiel nicht so unkompliziert in ihren Alltag. Das interpretieren Männer schnell als Ablehnung, Frauen hingegen sind verletzt, weil sie den Eindruck haben, auf ihre Bedürfnisse werde keine Rücksicht genommen.

Die Frage, wie oft Paare Sex haben (oder haben sollten), gehört zu den am heftigsten diskutierten überhaupt – und vermutlich wird in Umfragen bei wenigen Antworten so gelogen. Martin Luthers Empfehlung »In der Woche zwier [Anm. d. Red.: zwei Mal pro Woche] schadet weder ihm noch ihr«, ist da wohl buchstäblich nur ein frommer Wunsch. Paare mit Kindern haben deutlich weniger Sex, manche nur einmal im Monat oder noch seltener. In einer Langzeitbeziehung ist das übrigens nicht unbedingt ein Krisensymptom, sondern kann – man staune – auch ein Beleg für die Stabilität der Beziehung sein.

Sex ist nicht nur das Ausleben eines Triebes, sondern auch ein Mittel, sich des anderen zu versichern

Dieser Aspekt spielt am Anfang einer Liebe eine größere Rolle als später, wenn die Partner schon erlebt haben, dass sie sich auf einander verlassen können. Einer Umfrage zufolge, die das Meinungsforschungsinstitut Forsa 2010 durchführte, waren übrigens 65 Prozent der Befragten über 14 Jahren der Meinung, dass der gemeinsame Genuss von Essen für eine gute Partnerschaft manchmal wichtiger ist als Sex. Auch, wenn der Begriff “manchmal” dehnbar ist, zeigt diese Zahl doch, dass Sex eben “manchmal” überschätzt wird. Singles stimmten dieser Behauptung übrigens seltener zu als Menschen mit Partner, was zeigt, dass besonders erstrebenswert ist, was man nicht hat. Und jetzt die Überraschung:

Beim Sex können Kinder entstehen!

Wie schnell nach dem Kennenlernen, Verlieben oder Heiraten man das riskieren möchte, sollte gut überlegt sein, denn Kinder stellen alles auf den Kopf – insbesondere das Sexualleben! Realistisch gesehen sollte ein Paar spätestens ab der Geburt eines Kindes die Hoffnung auf befriedigende Zweisamkeit für längere Zeit fahren lassen. Das Baby, ein saugender, schmatzender, schlafraubender kleiner Vampir, fordert nämlich die volle Kraft der Mutter, deshalb ist die meist nicht begeistert, wenn ihr noch jemand saugend und schmatzend an die Wäsche will und ihr den Schlaf raubt. Eine Zeit lang ziehen junge Mütter den Großteil ihrer libidinösen Befriedigung aus dem Stillen und der intensiven Beschäftigung mit dem Kind – die frischgebackenen Väter fühlen sich verständlicherweise zurückgesetzt und rivalisieren oft heftig mit dem Baby um die Zuwendung der Mutter. Geschickt, wie die Natur nun mal ist, hat sie es aber so eingerichtet, dass die kleinen Verführer ihren großen Rivalen spielend die Show stehlen.

In dieser Phase betrügen manche Männer ihre Partnerin

Was wir Frauen als Schweinerei und unverzeihlichen Verrat empfinden. Gerade in dieser körperlich anstrengenden und emotional aufreibenden Zeit sind wir sehr auf Verständnis und Rücksicht angewiesen. Wenn ein Mann so wenig Frustrationstoleranz aufbringt, dass er nicht mal ein paar Wochen oder Monate auf Sex verzichten kann – womit muss man dann rechnen, wenn wirklich schwierige Zeiten kommen? Andere Männer werben weiter unbeirrt um ihre Frauen, kommen irgendwann glücklich ans Ziel – und zeugen Rivalen Nummer zwei. (Und drei. Vielleicht auch vier. Manche lernen langsam.)

Und jetzt kommen die vermutlich schwierigsten Jahre im Leben eines Paares

Denn das genetische Programm der Männer (zeugen, zeugen, zeugen!) kämpft gegen das der Mütter (schlafen, schlafen, schlafen!). Obwohl ich es auch in dieser Phase höchst unerfreulich fände, betrogen zu werden, habe ich ein gewisses Verständnis für diese Männer. Womöglich sind sie dem Irrtum aufgesessen, die Ehe sei eine Art Dauerabonnement für Sex – und müssen nun feststellen, dass ihre Frauen meistens zu müde sind, und es gewaltiger Anstrengungen bedarf, sie erotisch zu motivieren.

Ich kann mich gut an die Zeit erinnern, in der auch ich wie eine Schlafwandlerin durch meinen Alltag getorkelt bin, der aus einem atemberaubenden Drahtseilakt mit Windel wechseln, Kindergartendramen, schlaflosen Nächten, Sendungsvorbereitung und Buch-Abgabeterminen bestand. Zu dieser Zeit hätte ich abends jederzeit ein heißes Bad und eine Rückenmassage dem aufregendsten Sex der Welt vorgezogen. Es ist nicht zu übersehen, dass hier ein “clash of nature and culture” stattfindet. Der männliche Trieb und die natürliche Erschöpfung der Mütter kollidieren mit unserem kulturellen Ideal von Monogamie und Treue. Die Männer reagieren frustriert, die Frauen haben Schuldgefühle, es ist ein ewiges Ringen um einen für beide erträglichen Kompromiss, der nicht gerade der Erotik förderlich ist. Sex wird zum ständigen Krisenherd und zur Verhandlungsmasse, es entsteht ein innerehelicher Dauerkonflikt, für den es oft keine befriedigende Lösung gibt.

Ich glaube übrigens nicht, dass Sex zwangsläufig ein konstituierendes Element der Ehe sein muss

Ich kenne ein Paar, das über dreißig Jahre zusammen und seit einigen Jahren auch verheiratet ist, aber keinen Sex hat. Ich weiß nicht, ob sie gar keinen haben, oder nur nicht miteinander. Ich weiß nur, dass sie sich sehr lieben und nicht ohne den anderen sein möchten. Keiner von ihnen macht den Eindruck, ihm würde etwas fehlen. Es gibt unendlich viele Formen des Zusammenlebens und des Sexuallebens.

Alles, was für beide Partner in Ordnung ist, finde ich legitim.

Es gibt Arrangements, bei denen einer oder beide mit – stillschweigender Duldung des Partners –  Geliebte haben, es gibt gänzlich offene Ehen und solche, in denen die Sexualität gemeinsam mit anderen ausgelebt wird. Entscheidend ist, dass beide zufrieden sind, und sich nicht einer dem anderen zuliebe auf etwas einlässt, das ihn unglücklich macht.

Was aber, wenn ein Partner den anderen nicht mehr begehrt?

Daraus kann unendlich viel Leid und Verzweiflung entstehen, und für dieses Problem gibt es kaum befriedigende Lösungen. Begehren ist nichts, das man beschließen oder aktiv herstellen kann, und die in der einschlägigen Ratgeberliteratur gern verbreitete Vorstellung, eine Frau müsse nur in Strapsen und Reizwäsche vor ihrem erschlafften Gatten herumtanzen, um ihn wieder auf Touren zu bringen, ist ziemlich naiv. Die Probleme in diesen Fällen liegen fast immer tiefer und haben oft mehr mit demjenigen zu tun, der nicht mehr begehren kann, als mit dem, der nicht mehr begehrt wird. Niemanden trifft in diesen Fällen eine Schuld, niemandem ist ein Vorwurf zu machen. Empfindungen können sich – auch gegen unseren Willen – verändern, aus Anziehung kann Gleichgültigkeit werden oder sogar Abscheu.

Kaum jemand hat diese Tragödie so brutal und treffend beschrieben wie der französische Schriftsteller Michel Houellebecq in seinem Buch “Elementarteilchen”: “Im April habe ich Anne einen silberdurchwirkten Strapshalter zum Geburtstag geschenkt. Erst hat sie ein wenig protestiert, aber dann hat sie sich bereiterklärt, ihn anzulegen. (…) Als ich ins Schlafzimmer kam, wusste ich sofort, dass es ein Schuss in den Ofen war. Ihre Arschbacken hingen herab, wurden von den Strapsen zusammengequetscht; ihre Brüste hatten das Stillen nicht unbeschadet überstanden. (…) Ich habe die Augen zugemacht und einen Finger unter ihren Tanga geschoben, mein Schwanz war völlig schlaff. In diesem Augenblick hat Victor angefangen, im Nebenzimmer vor Wut zu schreien – ein langes, schrilles, unerträgliches Geschrei. Sie hat sich einen Bademantel übergeworfen und ist in sein Zimmer geeilt.”

Wer von solchen Dramen verschont bleibt und die Jahre der Brutpflege übersteht, hat gute Chancen, auch alle weiteren Schwierigkeiten zu meistern. Irgendwann werden die Kinder größer, schlafen durch und leben schließlich ihr eigenes Leben. Dann hat man wieder genügend Zeit. Und hoffentlich auch Lust.

“Ihr habt noch Sex?”, fragte unsere Tochter kürzlich entsetzt, “aber, ihr seid doch schon so alt!”

Ja, stimmt, uralt. 53 und 54. Aber Golf spielen macht uns einfach keinen Spaß. Alte Leute haben (nach Meinung von jungen Leuten) keinen Sex mehr zu haben. Nur, ab wann ist man (zu) alt? Mein über neunzigjähriger Patenonkel erwiderte auf die Frage, wie oft er noch an Sex denke:

“Einmal am Tag. Von morgens bis abends.”

Auch die Eifersuchtsdramen unter Senioren, von denen man gelegentlich in der Zeitung liest, lassen befürchten (oder hoffen), dass die Leidenschaft langlebiger ist, als die meisten jungen Menschen denken. Trotzdem ist die Frage unserer Tochter berechtigt. Warum sollen Menschen, die ihren Fortpflanzungsauftrag erfüllt und zwei nette Rentenzahler produziert haben, überhaupt noch Körpersäfte austauschen? Für Kinder ist die Vorstellung, dass ihre Eltern sexuelle Wesen sind, oft absurd und abstoßend. So lange sie klein sind, fangen sie instinktiv zu plärren an, wenn Mama und Papa nur an Sex denken (und erweisen sich damit als wirksames Verhütungsmittel). Wenn sie etwas größer sind, würden sie uns den Sex am liebsten verbieten. Wenn sie noch größer sind, würden wir ihnen am liebsten den Sex verbieten. Und wenn sie ganz groß geworden sind, hofft man, dass ihre persönlichen, ehelichen Konflikte einigermaßen glimpflich verlaufen und sie uns irgendwann zu Großeltern machen. Werden wir als Großeltern noch Sex haben? Oder sollten wir dann doch besser mit dem Golf spielen anfangen?

Amelie Fried & Peter Probst Verliebt, verlobt – verrückt? Warum alles gegen die Ehe spricht und noch mehr dafür”
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