Wie ist es eigentlich, wenn dein Freund plötzlich im Rollstuhl sitzt? 

Gesundheit ist ein Geschenk, das leicht zu selbstverständlich genommen wird. Dabei kann eine Krankheit das ganze Leben verändern. Oft so sehr, dass nicht einmal die Liebe genug Halt gibt. beziehungsweise-Autorin Nina Ponath hat für uns die bewegende Geschichte ihrer Freundin aufgeschrieben. 

Mit der Zeit wurden die Folgen der Krankheit immer schlimmer

Weil die Multiple Sklerose erst so spät – vermutlich Jahre nach dem Ausbruch – entdeckt worden war – waren schon irreparable Schäden im Nervengewebe entstanden, und Timo fiel es zunehmend schwerer zu gehen. Ich konnte von außen natürlich nicht einschätzen, wie schwer ihm das Gehen wirklich fiel. Das liegt vielleicht auch daran, dass er manche Dinge, die ihm wirklich wichtig waren, noch so gut konnte. Zum Rauchen vor die Haustür gehen zum Beispiel. Sauber machen oder einkaufen, ging dagegen gar nicht. Das machte es manchmal schwierig für mich, seine Krankheit richtig einzuschätzen.  

Irgendwann kam dann Timos Mama mit einem alten Rollstuhl von seinem Opa an. „Hier, vielleicht gehst du damit ja wieder mehr raus“, meinte sie. Der Rollstuhl war ein bisschen wie so ein Theater-Requisit aus alten Zeiten und er hat ihn nie benutzt. Doch dann kam sein Arzt auf dieselbe Idee, und Timo hatte nun einen eigenen, zeitgemäßen Rollstuhl, den er auch benutzte. Das war ein schleichender Übergang: Anfangs brauchte Timo den Rollstuhl nicht immer und konnte noch einigermaßen laufen. Aber für längere Strecken, um einkaufen oder unter Leute zu gehen, benutzte er ihn.  

Mit dem Rollstuhl war es uns möglich, zusammen wieder mehr am Leben teilzunehmen

Timos Freundeskreise hatte sich inzwischen schon ganz schön ausgedünnt. Viele hatten sich von ihm abgewendet, weil man nichts mehr mit ihm unternehmen konnte, und Timo war auch zu stolz, seine Freunde um Hilfe zu bitten. Aber es gab ja noch mich und meine Freunde. Mit denen konnten wir was machen und ich fragte ihn regelmäßig, ob er mitkommen wollte, wenn ich mit anderen essen oder ausging. Meistens lehnte er ab. Ich habe trotzdem erst mal immer weiter gefragt. Vielleicht wollte ich ihn damit fordern. Ich fand es auch schön, wenn er noch am „normalen“ Leben teilhaben konnte und er integriert wurde.

Timo wurde aber immer schnippischer: „Du, ich habe da gar keinen Bock drauf“, sagte er und warf mir vor, ich wisse gar nicht, wie schlimm seine Behinderung sei. Jeder Schritt vor die Tür bedeute riesigen Stress für ihn. Ich dachte mir immer „das ist doch kein Problem!“ Ich fragte mich, ob ich seine Lage vielleicht tatsächlich unterschätzte. Wie fühlt es sich an, wenn man für jede noch so kurze Strecke einen Rollstuhl braucht, wenn man den Bürgersteig absuchen muss, nach abgesenkten Stellen, weil man anders nicht über die Straße kommt, wenn man abhängig von der Freundin und ihrem Auto ist, ohne die man nicht von A nach B kommt. Natürlich kann man das, wenn man nicht selbst in der Situation ist, nur schwer beurteilen. Trotzdem glaube ich, dass ich anders wäre, wäre ich gehbehindert.  

Immerhin sagte Timo mir in einem ehrlichen Moment, dass er auch nicht „nicht mehr gefragt“ werden wollte. Damit wäre es wohl offiziell gewesen, dass man ihn ausgrenzte.

Ich bekam Anerkennung von meinen Freunden dafür, dass ich noch da war 

Komisch war für mich, dass nicht nur Timo Mitleid bekam. Auch ich wurde mit bedauernden Blicken versehen,  wenn ich von meinem Freund im Rollstuhl erzählte. Bei meinen Freunden stand ich damit im Mittelpunkt.  „Oh, das ist eine heavy Diagnose“ und „Ey, voll krass, wie du das machst“, sagten sie, wenn ich aus unserem Alltag erzählte. Dabei wussten sie ja gar nicht, wie ich es mache. Insgeheim befürchtete ich immer, es eben nicht gut zu machen. Vielleicht hätte ich zu einer Angehörigengruppe gehen sollen, oder mir anders Hilfe holen müssen. Ich habe mich immer echt schlecht für das Lob gefühlt.  

Auch nicht besser war der Kommentar einer Freundin: „Willst du mit diesem Mann denn wirklich Kinder bekommen?! Das ist ja fast strafbar.“ Ich musste ihr daraufhin erst mal erklären, dass Multiple Sklerose keine Erbkrankheit ist und sie sich die Frage für mich nicht stellen müsse.


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