Was mit einem Wisch beginnt, wird auch mit einem Wisch beendet

»Ghosting« ist ein Massenphänomen und bedroht weltweit alle digitalisierten Gesellschaften. Auszug aus dem neuen Buch der mehrfach ausgezeichneten Journalistin und Filmemacherin Tina Soliman.

»Man konsumiert. Ich sitze auf der Toilette und kann 100 Menschen in einer viertel Stunde von links nach rechts swipen«, erklärt die Schweizerin Ursula. Natürlich sei das abartig, doch gleichzeitig sei es fast schon wie eine Sucht. Man könne kaum aufhören, hin und her zu swipen. »Du kriegst nie genug. Willst immer mehr!«, so die 45-jährige Tinder-Nutzerin.

Wenn wir Freunde und Bekannte fast immer in der Reichweite von einem Wisch haben, wirkt das Verschwinden ohne Spuren besonders tief. Wird auf allen Kanälen kommuniziert, trifft einen der Stopp des Informationsflusses besonders. Rund eineinhalb Milliarden Mal werden pro Jahr sogenannte »Swipes« nach links oder rechts gemacht, um Profilfotos zu bewerten. Dabei geht es erst einmal ausschließlich um Attraktivität. Erst nachdem beide Nutzer einander als attraktiv eingestuft haben, können sie miteinander chatten.

Auf diese Weise haben Nutzer eine Kontrolle darüber, wer ihnen schreiben darf, und werden nicht mit Nachrichten von Personen konfrontiert, die sie vorher nicht als attraktiv eingestuft haben.

Ghosting ist eine Konfliktvermeidungstaktik

Das macht es einerseits einfach: Tinder matcht nur Menschen, die sich gegenseitig attraktiv finden. Das ist erheblich sicherer als der Flirt in der Bar, bei dem man Gefahr läuft, einen Korb zu bekommen. Andererseits: Wer nie Frustration erlebt, lernt auch nicht, mit Rückschlägen umzugehen und vermeidet Konfrontation. Das wiederum verstärkt den Hang, wortlos aus einer Beziehung zu gehen. Ghosting ist eine Konfliktvermeidungstaktik.

Gleichzeitig mache das Oberflächen-Prinzip die Tinder-User »völlig fertig«, wie uns Therapeut Eric Hegmann berichtet. Gerade Männer: »Vielleicht auch, weil sie nicht gewohnt sind, rein nach der Optik ausgesucht und gleich wieder aussortiert zu werden. Das kann ganz schön verunsichern. Wenn ich aber sozusagen die letzte Chance bin und mir dann nicht die Antworten zurückgespielt werden, die ich mir eigentlich wünsche, ich nicht die Kontakte bekomme, die ich brauche, versetzt mich das in eine heillose Panik. Und ich habe wirklich das Gefühl, mit mir stimmt etwas nicht.«

Alle möchten gemocht werden für das, was sie sind. Nicht für die Oberfläche, das Äußere. Deshalb wechseln, glaubt Hegmann, auch so viele von Wisch- und Weg-Plattformen wie Tinder zu Partnervermittlungsplattformen wie Parship.


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