unerhört: Kann man zu sehr lieben?

Liebe ist toll, viel Liebe ist besser – aber wann ist es zu viel? Und: Was tun, wenn Eifersucht und Verlustangst die Beziehung belasten?

Frage: Er tinderte mit anderen Frauen

Ich gebe zu, ich habe schon immer große Verlustängste und bin sehr eifersüchtig. Mein langjähriger Partner ist extrem gutaussehend und ein offener Mensch. Oft geraten wir aneinander, weil ich sein Verhalten falsch deute und wir uns gegenseitig missverstehen. Nun habe ich sein Smartphone in die Finger bekommen und konnte nicht widerstehen. Leider habe ich ein Tinder-Profil und diverse Chats mit Frauen gefunden. Es wurden auch Handynummern ausgetauscht, um privat miteinander zu schreiben. Er hat explizit nach Treffen gefragt und die Damen waren nicht abgeneigt. Es ist jedoch zu keinem Treffen gekommen.

Als ich ihn damit konfrontiert habe, wollte ich eigentlich schon nichts glauben, was aus seinem Mund kommen wird. Aber er meinte, es war ein ‘Wettbewerb’ zwischen einem Freund und ihm: Wer würde die meisten Frauen dazu bringen, sich tatsächlich zu treffen. Er hat sich entschuldigt, alles gelöscht und betont, dass es nur ein Spaß war, er hätte sich niemals getroffen.

Aber er sagte auch, dass ich nicht das Handy hätte nehmen dürfen. Das war für ihn ein riesiger Vertrauensbruch und er war sehr sauer. Er meinte, ich würde ihm ja ohnehin immer misstrauen.
Ich bin hin- und hergerissen und bekomme dieses Thema nicht mehr aus meinem Kopf, obwohl wir ausführlich darüber gesprochen und uns ‘vertragen’ haben. Ich habe Angst verletzt zu werden! Und ich werde niemals wissen, ob er mir wirklich die Wahrheit gesagt hat. Das ist kein gutes Gefühl.

Habt ihr einen Rat? Kann es wirklich sein, dass es nur Spaß war?

Antwort: Lassen Sie nicht zu, dass Ihre Beziehung schweren Schaden erleidet

Sie beschreiben sich selbst als eine Person mit einer unsicheren-ängstlichen Bindungshaltung, Sie nennen Verlustangst und Eifersucht als häufige Streitpunkte. Bevor ich auf den konkreten Anlass eingehe, möchte ich Ihnen nahelegen, grundsätzlich an diesen Gedanken zu arbeiten. Ich lese heraus, dass Sie unter Ihrer Furcht, ihn zu verlieren, leiden und auch Ihre Beziehung immer wieder in Frage stellen. Sie beschreiben Ihren Partner als extrem gutaussehend und als offenen Charakter – ich vermute, dass dies für Sie beim Kennenlernen sehr anziehende Eigenschaften waren. Nun jedoch bereiten Ihnen gerade diese Eigenschaften Angst. Ihr Partner hat sich nicht verändert. Aber Ihre Haltung ihm gegenüber. Wenn Sie nicht in eine Abwärtsspirale von Misstrauen geraten möchten, müssen Sie sich wieder neu in all das verlieben, was ihn für Sie anfangs so attraktiv gemacht hat. Wie das gelingen könnte, darauf möchte ich später eingehen.
Zum konkreten Anlass: Nach Umfragen sind über 40 % aller Tinder-Mitglieder in festen Beziehungen und es kommt nur bei einem verschwindend geringen Anteil von Matches überhaupt zu einem tatsächlichen Treffen. Daraus lässt sich schließen, dass die Plattform eher der Unterhaltung dient als der Beziehungsanbahnung. Ein Hauptgrund fürs tindern ist sicher, Bestätigung durch Matches zu erhalten und vielleicht auch ein wenig zu flirten – wobei es sich dabei in den meisten Fällen wohl eher um Fantasien handelt als um echte Flirts. Insofern ist sehr gut möglich, dass Ihr Partner, wie er sagte, niemals Interesse an Treffen hatte. Was aber auch immer der Anlass war, er suchte nach Anerkennung. Es ging ganz klar um einen Flirt-Wettbewerb und die daraus resultierende Bestätigung. Dass er sich dafür entschuldigt und sein Profil gelöscht hat, spricht dafür, dass es dabei blieb. Dass er Sie nicht eingeweiht hat, belegt aber, dass ihm bewusst war, wie verletzt Sie reagieren würden. An diesem Punkt sehe ich das eigentliche Problem: Sie als Paar verheimlichen sich gegenseitig Wünsche und Bedürfnisse. Und Sie beide entschuldigen dies durch Ihre Verlustangst.
Ich fürchte, wenn Sie nicht gemeinsam daran arbeiten, wird Ihre Beziehung schweren Schaden nehmen. Ihr Partner sucht Anerkennung ebenso wie Sie – allerdings in völlig gegensätzlicher Form und Sie geben sich beide diese Anerkennung vermutlich nicht gegenseitig. Ihr Spionieren in seinem Handy ist ganz sicher keine Anerkennung seiner Integrität und Privatsphäre und seine Suche nach Anerkennung außerhalb der Beziehung ist ein Vertrauensbruch und eine Verlagerung von zwischenmenschlichen Bedürfnissen nach Außen. Ich würde Ihnen raten, ein moderiertes Gespräch mit einem Berater, Coach oder Therapeuten zu suchen, um einen Schlussstrich unter vergangenes Fehlverhalten zu ziehen und wieder neu beginnen zu können. Hüten Sie sich, Ihre Verlustangst als Entschuldigung zu begreifen. Nach Ihrer Beschreibung ist es die Verlustangst, die Ihre Beziehung so stark belastet und die wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung Ihrer Liebe schweren Schaden zufügen kann.

unerhörtehrlich

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