unerhört: Er leidet unter Bindungsangst

Weil seine Ex ihn betrogen hat, fürchtet er sich vor Nähe. Was kann ich machen? Und: Er hat eine Vergangenheit als Frauenheld

Frage: Er war ein Frauenheld. Seine Vergangenheit belastet mich

Ich bin seit über einem halben Jahr vergeben an einen tollen Mann (er ist acht Jahre älter und deutlich erfahrener als ich). Er war er vor mir in einer jahrelangen Beziehung. Sie hat ihn am Altar stehenlassen. Es dauerte Jahre, bis er dies überwinden konnte. Er überstand nur mit Mühe diese Phase und war sogar wegen Depression in Behandlung. In dieser Zeit hat er es in Sachen Frauen ordentlich krachen lassen. Also so richtig. Nun weiß ich, dass man die Vergangenheit ruhen lassen sollte und man seinen Partner mit dessen Vergangenheit annehmen muss. Aber mich belastet dieses Wissen, auch weil ich selbst absolut kein Mensch für unverbindlichen Sex bin und dieses Verhalten nicht nachvollziehen kann. Mich macht das extrem fertig und ich weiß, dass ich eine Lösung für mich finden muss, weil mich das auf Dauer kaputt macht und meine ansonsten schöne Beziehung ruinieren wird.

Antwort: Können Sie diese Phase seines Lebens aus einem anderen Blickwinkel betrachten?

Sie schreiben “Mich belastet dieses Wissen”. Mein Eindruck ist, Sie belastet nicht allein, was Sie wissen, sondern auch gleichzeitig, was Sie ahnen. Sie waren nicht dabei. In Ihrer Vorstellung spielt sich das ‘krachen lassen‘ möglicherweise viel heftiger ab, als es war. Es ist nur menschlich, Situationen aus der eigenen Wahrnehmung heraus zu betrachten und eben auch zu werten. Sie sind jünger als er und die “sehr lange Beziehung”, wie er sie führte, kommt Ihnen wie ein halbes Leben vor. Aus Ihrer Sicht ist unverbindlicher Sex ein schlechtes Verhalten. Möglicherweise erreichen Sie durch einen Perspektivwechsel, dass Sie wertfreier und schmerzfreier die Situation betrachten können: Vor dem Altar stehen gelassen zu werden, wäre für nahezu alle Menschen ein traumatisches Erlebnis. Wie Sie das beschreiben, war Ihr Partner sehr verletzt und benötigte therapeutische Behandlung. In dieser Phase hat er möglicherweise ganz anders gehandelt, als er jemals von sich selbst dachte, dass er handeln würde. Vermutlich haben Sie bisher selbst mit solchen Gedanken das Verhalten Ihres Partners versucht, zu erklären und – in Ihrem Wertesystem – zu verteidigen. Weil Sie überzeugt sind, um sich so zu verhalten wie er, etwas ganz Einschneidendes passiert sein muss. Mit dieser Erklärung bleiben Sie innerhalb Ihrer Glaubenssätze, finden eine Rechtfertigung, fühlen sich aber unwohl, weil Sie natürlich den Auslöser nicht nachfühlen, sondern nur erahnen können. Das wird sich mit dieser Strategie vermutlich auch nicht ändern.

Ein anderer Ansatz wäre, zu akzeptieren, dass Ihr Partner offensichtlich – und sei es nur in bestimmten Situationen – andere Glaubenssätze und Werte hat als Sie. In welchen Bereichen unterscheiden Sie sich denn noch?

Vielleicht hilft Ihnen der Gedanke, dass Unterschiede eben auch Ergänzungen sind.

Dass es für Sie als Paar sehr hilfreich sein kann, wenn nicht beide Partner die gleichen Schwächen und Stärken haben. Wie können Sie das erreichen? Indem Sie sich offen über Ihre Sorgen und Ängste austauschen. Vielleicht gelingt es Ihnen, seinen Prozess der Heilung nicht als Bedrohung, sondern als Beleg seiner neuen Stärke zu betrachten. Immerhin leidet er heute nicht mehr unter den von Ihnen beschriebenen Symptomen. Er ist mit Ihnen zusammen. Er flüchtet nicht vor Nähe. Sie mögen seine “Behandlungsmethode”  für nicht gut (und völlig ungeeignet für sich selbst) halten, doch möglicherweise war diese für ihn genau der Weg, wieder eine Person zu werden, die Nähe und Vertrauen zulassen kann. Heute profitieren Sie aus dieser Sicht sogar davon, dass er sich damals so verhalten hat. Sie müssen ihn dafür nicht loben, aber vielleicht können Sie es am Ende sogar wertschätzen. Und sei es nur aus Eigennützigkeit.

unerhörtehrlich

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