Sex wird unterschätzt

Eine Antwort auf Amelie Frieds Gastbeitrag “Sex wird überschätzt” – von ihrem Ehemann, TV-Autor Peter Probst

Ich war vierzehn, als ich den Sex entdeckte. Auch wenn es noch Jahre bis zu meinem ersten Geschlechtsverkehr (das Wort klingt heute fast nach Comedy) dauern sollte, begann für mich damals die Eroberung eines geheimnisvollen Kontinents. Wie die Seefahrer und Wüstendurchquerer bereitete ich mich mit den schriftlichen Zeugnissen meiner Vorgänger, mit damals noch recht schwer zugänglichem Bildmaterial und nicht immer vertrauenswürdigen Auskünften angeblich bereits eingeweihter Klassenkameraden vor. Ich wachte mit dem Gedanken an Sex auf und schlief mit ihm ein, dazwischen dachte ich an Sex. Es ist erstaunlich, dass ich in dieser Zeit die mittlere Reife, den Führerschein und schließlich sogar das Abitur geschafft habe. Ich kann mir das nur so erklären, dass das Niveau der Prüfungen extrem niedrig war und man der Tatsache Rechnung trug, dass die meisten Prüflinge mit Wichtigerem beschäftigt waren.

Auch imaginärer Sex kann ja ungeheuer ablenken und auszehren

Lernte ich ein Mädchen kennen, stellte ich mir vor, wie es wäre, mit ihr Sex zu haben. Tanzte ich mit einem Mädchen, hatte ich quasi schon Sex mit ihr. Knutschte ich mit einem Mädchen, stellte ich mir vor, wie es wäre, gleichzeitig noch mit einem, zweiten, dritten und vierten zu knutschen. Ich gebe zu, mangels Erfahrung neigte ich ein wenig zur Selbstüberschätzung. Leider erwiesen sich meine Strategien, dem großen Ziel näherzukommen, als wenig tauglich. Die Mädchen schätzten es nicht, wenn ich frei heraus erklärte, mir gehe es nur um Spaß, nicht um Liebe. Mit der einen, in die ich jahrelang verliebt war, hätte ich übrigens auf keinen Fall Sex haben wollen. Das war mir viel zu intim. Auch mein ehrliches Wesen kam nicht gut an.

»Ich heiße Peter und stelle dich mir gerade nackt vor«,

war als Anbahnung ungeeignet. Trotzdem hat sich irgendwann eine schon etwas erfahrenere Frau erbarmt. Danach ging es richtig los. Das war in der paradiesischen Zeit, in der die Pille schon erfunden, Aids noch nicht ausgebrochen und riskante alternative Verhütungsmittel wie Mondkalender und Jute noch nicht sehr verbreitet waren. Man traf sich zum Sex wie heute zu Spieleabenden. Als politisch denkender Mensch vertrat ich vehement die gut zu meinem Lebensstil passende These, dass die freie Sexualität den einzelnen Menschen und zuletzt die ganze Gesellschaft befreien würde. Und welche Frau wollte schon unfrei sein? Ich war dreiundzwanzig, als ich meinem Tagebuch den Satz Nietzsches anvertraute, dass Art und Grad der Sexualität bis in die höchste Geistlichkeit hineinreichten (womit er den Intellekt, nicht den Klerus meinte). Wenn diese Theorie stimmte, war ich ein Superintellektueller.

Dann kam Ricarda

Steckte ein Plan dahinter oder war es der Zufall der Konstellation? Ich weiß es nicht, ich weiß nur noch, wie ich mit ihr zum ersten Mal erlebte, dass Sexualität und Liebe eine Verbindung eingehen können. Ich merkte das daran, dass ich Ricarda auch unmittelbar nach dem Sex noch mochte. Und zwar auch nach der zweiten, dritten oder vierten Begegnung. Das war mein Damaskus-Erlebnis, meine wahre sexuelle Revolution, von der meine Umwelt allerdings kaum etwas mitbekam. Denn meine Entdeckung führte nicht etwa dazu, dass ich länger bei einer blieb und weniger auf der Suche war. Ich verliebte mich einfach häufiger. Und entliebte mich wieder.

Ich war ständig überglücklich oder todunglücklich und hatte dabei jede Menge Sex.

Nein, ich führte keine Liste, aber ich hätte es tun sollen, weil ich anfing, die Namen durcheinanderzubringen. Meine Eltern hatten mich aufgegeben. Sie prophezeiten mir, dass ich nie eine glückliche Ehe führen würde, denn da für müsse man vor allem Enthaltsamkeit trainieren. Meine Freunde glaubten meinen Abenteuerberichten nicht mehr – manchmal trieb meine Phantasie es auch wirklich noch toller als ich. Wie sagen Leute mit Lebenserfahrung: Jedes Böcklein hat sich seine Hörner noch irgendwann abgestoßen. Es ist ein Naturgesetz, dass die Energien schwinden. Aber das stimmt nicht, bei mir wurden sie nicht weniger, sie veränderten sich nur mit jeder neuen Begegnung. Ich war ja längst auf dem Weg und hatte erfahren, dass es Zustände gab, die erregender waren als losgelöster Sex. Sie hatten nur nie lang gedauert.

Ich war neunundzwanzig, als ich »Der Mensch wird noch alles und ganz werden« in mein Tagebuch schrieb. Der Satz war von Elias Canetti und ich bezog ihn, wie fast alles in dieser Zeit, auf mich. Es sollte noch fast drei Jahre dauern, bis ich Amelie begegnete. Und das war gut so. So konnte ich noch ein wenig an mir und meiner »Utopie der Liebe« arbeiten. Was das ist? Ehrlich gesagt rede ich darüber nur ungern. Als ich nämlich einige Monate vor unserer Hochzeit in einem Biergarten meinem zukünftigen Schwager Nico meine Theorien zu Ehe und Liebe erläuterte, bekam der vor Lachen Bauchkrämpfe. Gut, er war deutlich jünger als ich, und der pragmatische Zeitgeist der späten Achtziger reagierte mit Herablassung auf jedes utopische Konzept – trotzdem kam ich mir vor wie ein Idiot. Ich hatte mich immer schon für schöne Sätze begeistert, auch wenn ich sie manchmal nicht vollständig begriff. Eines meiner Lieblingszitate stammte von Ernst Bloch, dem Philosophen der konkreten Utopie: »Es geht um den Umbau der Welt zur Heimat, ein Ort, der allen in der Kindheit scheint und worin noch niemand war.« Also strebte ich in aller Bescheidenheit danach, unsere Ehe zu einer solchen Heimat zu machen.

Die Utopie der Liebe

Mühsam das Grinsen unterdrückend fragte Nico mich, was für Strategien ich denn dafür hätte. Nun ja, sagte ich, da es eine längere Reise werden könne, müsse genau überlegt werden, was in den Rucksack kommt und was nicht. Narzissmus und Egozentrik sollten möglichst draußen bleiben, dafür umso mehr Empathie und Großzügigkeit eingepackt werden. Außerdem müsse jeder bereit sein, sich immer wieder mal auf den Prüfstand stellen zu lassen und an der Entwicklung seiner Persönlichkeit zu arbeiten.

Ich merkte, dass meine Tiraden verdammt nach einem Wanderprediger klangen, aber ich konnte nicht aufhören.

»Ich träume von einem heimatlichen Ort«, sagte ich, »an dem aus den scheinbar unvereinbaren Gegensätzen zwischen Mann und Frau etwas gemeinsames Neues entstehen kann – natürlich auch in sexueller Hinsicht. Dieser Ort existiert noch nicht, aber dass wir dorthin unterwegs sind, gibt uns die Kraft, aus unserer Ehe etwas ganz Besonderes zu machen.« Ich glaube, das war der Moment, in dem Nico, der mich als Ironiker kennengelernt hatte, vor Lachen unter den Tisch rutschte. Als er wieder hochkam, erkundigte er sich vorsichtig, ob ich seine Schwester denn schon in meinen utopischen Plan eingeweiht hätte. »Noch nicht.« Er legte mir kameradschaftlich den Arm um die Schultern. »Dann warte lieber damit. Ich fürchte, sie ist noch nicht reif dafür.« Ich habe den Rat meines Schwagers beherzigt und Amelie gegenüber nur hier und da zaghafte Andeutungen über meine »Utopie« gemacht. Merkwürdigerweise hatte ich nur selten das Gefühl, dass wir auf völlig unterschiedlichen Wegen unterwegs waren.

Hatte meine realistische Frau möglicherweise einen ganz ähnlichen geheimen Traum?

Ich habe sie nie gefragt, weil sie es sowieso nicht zugeben würde. Aber es kommt mir so vor, als hätte die »Utopie der Liebe« in mehr als zwanzig Jahren unsere Ehe wie ein kleiner Hausgott beschützt, damit wir in Krisen nicht hinwerfen, die Aufmerksamkeit für den anderen nicht verlieren und unsere Wünsche und Träume nicht dem Alltag opfern. Aber, bitte behalten Sie das alles für sich. Ich möchte auf keinen Fall für einen unheilbaren Träumer gehalten werden – vor allem nicht von meiner klugen und vernünftigen Frau.

 

Verliebt_Verlobt_Verrueckt_Fried Amelie Fried & Peter Probst
Verliebt, verlobt – verrückt? Warum alles gegen die Ehe spricht und noch mehr dafür”
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