Wären wir eigentlich getrennt glücklicher?

Ein erschreckender Gedanke: Wäre ich allein besser dran als in meiner Beziehung? Eine Übung aus der Paarberatung, die dieser Frage nachgeht

Nach einem weit verbreiteten Gedankenmodell führen wir in unseren Beziehungen eine Art Konto, dessen Stand bei Zufriedenheit im Plus und bei Stress im Minus ist. Knutschen und Kuscheln = Plus. Verfärbte Wäsche und vergessener Jahrestag = Minus. Dickes Minus. Denn evolutionär können wir uns erheblich besser merken, was uns schadet, damit wir uns beim nächsten Mal schützen können. Das Beziehungskonto ist also schnell überzogen und Strafzinsen gibt es auch noch, denn es muss im Verhältnis 5:1 ausgeglichen werden. Das heißt: Um das hässliche Geschenk zu vergessen, über das wir uns geärgert haben, weil es so gar nicht von Liebe zeugte, braucht es fünf Mal Tee ans Bett mit Kampfkuscheln.

Wenn Paare zu mir in die Beratung kommen, sind sie meist überzeugt, es gäbe da einen riesigen Schuldenberg, der abzubauen wäre. Meist vom Partner, versteht sich. Weil es in Beziehungen aber – für mich – keine Schuldner und Gläubiger gibt, bemühe ich mich um einen anderen Ansatz.

Die Frage zu Beginn: Bin ich glücklich in meiner Beziehung?

Diese Frage sollte sich jeder Partner für sich stellen. Sie ist, zugegeben, nicht ohne. Was ist schließlich Glück für mich? Wer ist für mein Glück verantwortlich? Kann ich fortwährend glücklich sein? Wo fängt Zufriedenheit an, wo beginnt Glück? Und vergleiche ich möglicherweise mein vermeintliches Unglück mit dem Glück anderer Menschen, von denen ich gar nicht wissen kann, ob sie tatsächlich so glücklich sind, wie ich das annehme?

Nun die Frage an die Person, die es ebenso betrifft: Bist du glücklich in unserer Beziehung?

An diesem Punkt spätestens stellen die Paare fest, dass die Definition von Glück sich von Mensch zu Mensch unterscheidet. Und das gilt auch für Liebende. Die Herausforderung ist, das Empfinden des Partners zu respektieren, seine Wünsche, seine Hoffnungen und seine Sorgen, ohne sie abzuwerten, weil man selbst anders fühlt. Im besten Fall erleben die Partner bereits hier, dass sie mehr eint als trennt. Wenn nicht, dann folgt die schwierige und schmerzhafte Frage:

Wären wir glücklicher getrennt?

Angst vor dem Alleinsein und Furcht vor Veränderung hält viele Paare zusammen. Das muss gar nicht so schlecht sein, wie das klingen mag. Denn manchmal zeigt sich an dieser Stelle: Unsere Liebe hat eine starke Basis, um die es zu kämpfen sich lohnt. Konflikte gehören zum Leben wie Veränderungen. Nur sind die gemeinsam einfacher zu bewältigen als alleine. Verletzungen in Beziehungen geschehen nicht immer vorsätzlich, die meisten geschehen fahrlässig, viele völlig unbeabsichtigt. Was schmerzt mehr? Der Stolz, das beschädigte Selbstbewusstsein? Oder eben doch das Verhalten des Partners?

Um sich darüber klar zu werden, bitte ich Paare häufig, sich auf die folgende Übung einzulassen: Jeder Partner schreibt einen Brief an sich selbst. Und zwar aus der Sicht eines zukünftigen Ichs, fünf Jahre von heute: “Liebes Ich in der Vergangenheit, warum ich froh bin, dass du dich damals nicht getrennt hast.”

Der Gedanke dahinter ist nicht schwer zu durchschauen: Es geht um Dankbarkeit und Achtsamkeit als Gegenmittel zum Beziehungsfrust und als wahrer Glücks-Booster. Um Verständnis, dass Glück kein Dauerzustand ist. Denn Zufriedenheit ist bereits ein hohes Gut. Ob ein Paar nun zusammenbleiben wird, entscheidet sich meist beim nächsten Teil der Übung:

Sind die Partner bereit, sich gegenseitig ihre Briefe vorzulesen?

Sich dankbar zu fühlen und seine Dankbarkeit auszudrücken, sind noch einmal zwei ganz verschiedene Dinge. Es gehört eine Menge Mut dazu, sich darauf einzulassen. Und genau deshalb funktioniert diese Übung beinahe wie von selbst: Wer es wagt, sich so zu öffnen, der ist bereit, das Glück in die eigene Hand zu nehmen, sich einzulassen auf den Partner und für die gemeinsame Liebe zu kämpfen.


Weitere interessante Beiträge