Mein zweites Leben

Nachdem ich acht Jahre nichts von dir gehört hatte, bekam ich eine Nachricht von dir über Facebook. Du schriebst, dass dir alles leid täte, dass du mich nicht verletzen wolltest, dass du dein Verhalten von damals bedauern würdest und dass du mir alles Gute wünschst. Was sollte ich darauf antworten nach so vielen Jahren, und sollte ich dir überhaupt antworten? Ich schrieb dir eine oberflächliche, freundliche Nachricht, in der ich deine Entschuldigung annahm und dir ebenfalls alles Gute wünschte.

Einige Wochen später schriebst du mir wieder, und wir kamen ins Gespräch. Du erzähltest mir, dass du eine unschöne Trennung hinter dir hättest, wie dein Sohn heißt und dass du dich verändert hättest. Wir verabredeten uns für ein Treffen. Ich hatte keine Angst davor, weil meine Gefühlswelt ohnehin weitestgehend taub war. Du stelltest kein Risiko mehr für mich dar. Außerdem hatte ich gerade selbst eine toxische Beziehung beendet, trank wieder zu viel, rauchte zu viel Gras und sah unser Treffen als eine gute Gelegenheit, um Sex zu haben und Anspannung abzubauen. So war es auch. Nach ein paar Drinks und einem kurzen Update bzgl. der letzten Jahre, gingen wir zu mir und schliefen miteinander. Du versuchtest mir vorsichtig klar zu machen, dass du nun bereit dafür seist mit mir zusammen zu sein. Ich machte dir sehr deutlich klar, dass es nun zu spät dafür ist. Am nächsten Morgen frühstückten wir noch miteinander und verabschiedeten uns danach. Ich holte das ganze kaputte Gefühlschaos an die Oberfläche.

In den Wochen danach kamen wieder viele Nachrichten und Anrufe von dir. Meist ging ich nicht ans Telefon, und deine Nachrichten beantwortete ich nur sporadisch. Du wolltest mich wiedersehen und meine Nähe. Ich konnte dir nur Sex und Distanz geben. Fast ein Jahr verging, in dem ich dich gleichgültig und herablassend behandelte. Du hast es geduldig ertragen und mich und mein Verhalten akzeptiert. Wir verbrachten ab und zu ein Sex-Wochenende miteinander. Mehr war es für mich nicht. Für dich war es der Versuch wieder einen Zugang zu mir zu finden. Aufgrund meiner zahlreichen Probleme war ich mittlerweile in therapeutischer Behandlung. Dort thematisierte ich auch dich und unsere Geschichte. Zusammen mit meiner Therapeutin holte ich mein vergrabenes, kaputtes Gefühlschaos an die Oberfläche und versuchte mich ihm so gut es ging zu stellen. Dieser Prozess dauerte mehrere Monate und war fürchterlich anstrengend.

Ich wollte mich Dir schließlich emotional wieder öffnen

Ich versuchte das Gute in unserer Geschichte zu sehen, den Sinn des Ganzen zu erkennen. Mit der Zeit gelang es mir zumindest ein Stück weit zu verstehen, was damals mit dir, mit mir und mit uns passiert war und welche Anteile auch ich selbst an meiner tief empfundenen Katastrophe hatte. Es begann ein innerlicher Prozess der Vergebung. Ich wollte mich von der Verbitterung befreien. In der letzten Sitzung vor Weihnachten erzählte ich meiner Therapeutin, dass ich dich am Wochenende wieder treffen würde. Sie lächelte mich an und sagte: „Dann versuchen Sie doch mal die Handbremse zu lösen.“ Obwohl ich skeptisch war, beschloss ich also, dass ich mich dir wieder emotional öffnen wollte. Als ich dir von meinem Entschluss erzählte, fielst du mir jubelnd in die Arme. Seitdem haben wir uns behutsam einander angenähert und uns besser kennengelernt.


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