Das Leben, das ich niemals führen werde

Sie hat ihn gehen lassen. Jetzt vermisst sie ihn in jedem Augenblick. Ihn und das Leben, das sie miteinander führen wollten. Unsere anonyme Leserin hat einen Abschiedsbrief verfasst, um noch einmal Danke sagen zu können

Seit anderthalb Jahren führe ich zwei Leben. Das eine Leben, mein aktives Leben – da sind meine Familie, meine beste Freundin, mein Job, meine Vergangenheit, meine Pläne für die Zukunft, das Hier und Jetzt. Und das andere Leben, mein passives Leben – da bist Du! Dieses Leben fand niemals seinen endgültigen Abschluss und verfolgt mich seither. Du verfolgst mich seither! Du – der mein ganzes Leben und meine ganze Welt auf den Kopf stellte. Du – der so schnell und plötzlich, wie er in mein Leben getreten war, auch wieder hinaustrat. Du – der bis heute, anderthalb Jahre später, ein unsagbares Gefühl in mir hinterlässt.

Ich führe „unser“ Leben, das es so nie gab und auch nie geben wird, weiter. Du weißt es nicht, aber für mich war es nicht vorbei. Für mich ist es bis heute nicht vorbei. In „unserem“ Leben sind wir glücklich, da bewältigen wir den Alltag, kämpfen uns durch wütende Sandstürme, liegen seelenruhig auf einer verlassenen Insel umringt von den Kleinigkeiten, die das Leben so kostbar machen.

Es ist das Leben, das ich niemals haben werde. Und dennoch existiert es. Hier bei mir, nur bei mir. Ich weiß, du bist nicht mehr derselbe. Und ich bin auch nicht mehr dieselbe. Ein Teil von mir jedoch lebt noch immer in dieser Zeit von vor anderthalb Jahren. Ein Teil von mir lebt noch immer in diesem Monat, in dem sich mein Leben komplett veränderte. Mein Leben konvertierte zum Glauben an die Liebe, das Ungreifbare, das Bedingungslose. Ein Teil von mir lebt noch immer in dieser kurzen Zeit, die mich um so viel bereicherte und an der ein großes Stück meines Herzen hängt.

Aber du bist fort. Und ich weiß, dass meine Angst vor dem Ungewissen der Grund dafür war. Ich lernte so viel durch unsere Begegnung, die so voller Bedeutung für mich war. Ich habe unter anderem gelernt, dass viel dazu gehört, dass zwei Personen zueinander finden. Gegenseitige Sympathie, bloßes Interesse an der jeweiligen Person und selbst tiefe Gefühle können noch nichts darüber sagen, ob diese beiden Personen schließlich zueinander finden. Es sind auch die Umstände und die Lebenssituationen, unter denen sich zwei Personen begegnen. Sie sind ein wichtiger Faktor für den weiteren Verlauf einer Begegnung. Ich bin mir sicher: Wir sind uns nicht grundlos begegnet. So, wie keine Begegnung im Leben grundlos geschieht.


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