Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht

Ein populäres Motto. Doch es macht nicht gerade liebenswert. Wir leben im Zeitalter des Egoismus. Ein Leserbeitrag von Thorsten Wittke

Eine Beziehung ist harte Arbeit. Das ist nicht vielen Menschen klar und noch weniger machen sich diese Mühe heute. Wenn die große Zeit der Schmetterlinge im Bauch vorbei ist, wir festgestellt haben, dass der neue Partner auch nur mit Wasser kocht und die ersten Wolken am Himmel aufziehen, ist es ein Leichtes, an der Reißleine zu ziehen. Die investierte Zeit ist noch nicht so lang und die Gefühle sind noch nicht so tief. In der Zeit zwischen den wechselnden Beziehungen haben wir es uns ja prima eingerichtet in unserem Single-Leben.

Wir haben unseren Job, in dem man sich verkriechen kann, Freunde, die für einen da sind, das Fitnessstudio, das Internet, den Fernseher und tausenderlei Ablenkungen und Hobbys, mit denen wir uns  die Zeit vertreiben können – bis wir abends müde und allein in unser Bettchen kriechen können.

Angefeuert von Ratgebern und Lebenshilfebüchern, die einen dabei unterstützen sein Glück in sich selbst zu finden, indem sie suggerieren, je mehr ich für mich selbst sorge und mich selbst liebe, um so toller wird mein Leben. Motto: „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht.“

Bis zu einem gewissen Grad mag das stimmen, aber mir kommt es so vor, als wenn die meisten das Thema falsch verstehen.

Vielfach wird Egoismus mit Egozentrik verwechselt.

Egoismus ist gesund und nötig. Egozentrik ist anstrengend und belastend, vor allem für einen potentiellen Partner. Schade, dass die wenigsten die Energie, die sie in sich und ihr Single-Leben investieren, nicht in eine Beziehung investieren können – oder wollen. Scheinbar gefangen in der eigenen Großartigkeit und beschäftigt mit Selbstoptimierung bemerkt niemand, dass man sich selbst im Weg steht und kaum noch in der Lage zu langfristigen Beziehungen ist. Der ein oder andere kommt dann irgendwann sogar zu dem Punkt, an dem er diese als überflüssigen Ballast ansieht.

Aber was ist die Ursache dafür? Liegt es daran, dass sich am Anfang einer Beziehung niemand normal verhält? Verhält man sich am Anfang total verlogen, bis der andere einen anfängt zu mögen und man ihm sein wahres Gesicht zeigen kann? Oder liegt es doch daran, dass vor lauter Selbstverliebtheit kein Platz für einen anderen Menschen neben den Protagonisten ist? Vielleicht ist es auch einfach nur so, dass man sich auf die Suche nach dem nächsten Kick macht, wenn es langweilig wird, weil der Körper die Produktion des Oxytocin, Adrenalin, Serotonin und Dopamin wieder auf normal eingestellt hat.

Unbestritten haben sich das Rollenbild und das Rollenverhalten in den letzten Jahrzehnten geändert

Frau ist selbstbewusster, unabhängiger und selbstständiger. Mann ist weniger Machismo und bestimmend. Das Ende vom Lied ist, dass jeder so sehr mit sich selbst beschäftigt ist, dass er dabei vergisst Prioritäten zu setzen, oder eben Prioritäten setzt, die nicht kongruent zu einer Partnerschaft sind.

Irgendwann setzt dann das große Bereuen und die Verbitterung ein. Biologisch bedingt meist zuerst beim weiblichen Teil des Beziehungszirkus. Getrieben von den eigenen Erwartungen und denen des Umfelds hetzen sie von Ziel zu Ziel. Zwischen Abitur, Studium, Ausbildung, Einstieg in die Berufswelt und dem Wunsch nach Karriere merken sie nicht, wie die Zeit vergeht. Einige dieser Abschnitte verbringen sie mit Partnern an ihrer Seite. Sehr oft halten diese Partnerschaften etwas länger als das Erreichen des jeweiligen Zieles, weil auf dem Weg dorthin so viel Porzellan zerschlagen und immer wieder gekittet worden ist, sodass das gemeinsame Geschirr einfach nicht mehr ansehnlich ist und man – um im Bild zu bleiben – sich lieber neues Unbelastetes anschafft. Jedes einzelne dieser Ziele war wichtig, sicherlich unbestreitbar, erforderte aber auch eine Menge Rücksichtnahme und Zurückstecken beim Partner.

Nicht immer wird der andere seine Enttäuschung verborgen haben können, manchmal wird es zu Streit gekommen sein, mal mehr, mal weniger heftig. Nach Erreichen des Zieles gibt es dann eine Erwartungshaltung, dass man selbst jetzt auch mal dran sei, entstanden aus der Gewissheit, dass man den anderen über Jahre unter- und gestützt hat. Das Erreichen des jeweiligen Ziels wird dann heute meist damit gefeiert, dass wir jetzt, frei und unbelastet, den fordernden Ballast über Bord werfen und die Reise lieber allein oder mit jemand anderem fortsetzen.

Irgendwann setzt dann das Ticken der biologischen Uhr ein und Hektik greift um sich. Der Markt hat sich gelichtet und Frau muss, wenn das nächste Ziel die Fortpflanzung ist, nehmen, was noch da ist.

Handicaps wie nervende Ex-Frauen, Alimente, mangelnde Übereinstimmungen oder große Entfernungen werden verdrängt, hat sie doch im Laufe ihres Lebens gelernt, ihre Bedürfnisse ihren Zielen unterzuordnen. Also zieht sie das jetzt durch, weil die Zeit rennt und redet sich die Sache schön, auch wenn das emotionale Scheitern dieser Geschichte vorprogrammiert ist. Manchmal funktioniert es trotzdem, in dem das Paar seine gesamte Energie in das Produkt dieser „Liebe“ steckt.

Ein glückliches und zufriedenes Leben sieht aus meiner Sicht anders aus

Die Alternative ist, dass der Wunsch nach Fortpflanzung gestrichen wird, was dann wieder zu anderen Problemen führt. Für das geopferte Ziel muss jetzt Ersatz her. Es wird noch mehr Zeit in die Karriere investiert, Volkshochschulkurse besucht, mit wachsender Begeisterung Ersatzbefriedigung in Patenschaften oder rent-a-Kind investiert. Das Fitnessstudio wird zur zweiten Heimat und Yoga öffnet den Weg zur spirituellen Erleuchtung. Der Tag muss gefüllt werden und wenn abends Hund oder Katze auf einen warten, ist es doch schön, dass sich jemand freut, wenn wir die Haustür öffnen. Wenn dann doch ein potentieller Partner auftaucht, muss er dem Idealbild entsprechen – was nur ganz selten der Fall ist – oder eben als Lückenfüller funktionieren, der zur Verfügung steht, wenn mal etwas Luft in den wenigen Zeitfenstern unserer Freizeit bleibt. Er muss zur Verfügung stehen, wenn einem danach ist, möglichst wenig fordern und dabei aber noch das Gefühl vermitteln, dass er den Partner anbetet. Da war sie wieder, die eierlegende Wollmilchsau.

Da es sehr schwierig bis unmöglich ist diese Prämissen zu erfüllen, wird der Partner ausgetauscht, sobald es schwierig werden könnte. Man hat ja keine gemeinsamen Ziele, also ist das schnell erledigt.

Beim Mannsvolk verhält es sich ähnlich, wenn auch nicht ganz so komplex. Da es keine Uhr gibt, die tickt, sind die Gründe für Trennungen meist noch absurder und willkürlicher gewählt. Oft steckt eine neue Partnerin dahinter, mit der er meint, unbelastet in eine gemeinsame Zukunft starten zu können, wohlweislich ignorierend, das spätestens nach einem halben Jahr die gleichen Probleme auf ihn warten wie vorher. Aber auch hier gilt das gleiche Prinzip: Wenn es schwierig wird, Kompromisse erforderlich werden oder Einschränkungen drohen, ergreift Mann die Flucht und schaut, was das Leben noch so bringt.

So sind wir weiter unterwegs auf dieser Straße, fahren vorbei an den Ausfahrten mit Namen „Streiten und Kompromisse schließen können“, „Beziehungsarbeit“, „Respekt und Anerkennung für das, was der Partner tut“, „Gegenseitige Hilfe und Unterstützung“, „Offenheit bei Sorgen und Problemen“, „Füreinander da sein“. Da die Landschaft hinter diesen Ausfahrten aber nicht blühend und einladend aussieht, fahren wir weiter, es wird schon noch was Besseres kommen.

Ich hoffe, dass wir irgendwann auf die Idee kommen, umzudrehen – und zwar bevor uns der Sprit ausgegangen ist.


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