Was ich an dir liebe, Schwester

Sprechen wir von der Liebe, ist meist die partnerschaftliche Liebe gemeint. Dabei gibt es noch so viele weitere Formen der Liebe, etwa die Geschwisterliebe! Leon Reinhardts hat uns einen ergreifenden Text an seine Schwester zukommen lassen, der auf ewig ein Platz in seinem Herzen gehören wird

Liebe Schwester,

als Kinder waren wir unzertrennlich. Haben uns gehasst und gestritten. Haben uns wieder vertragen. Haben wir Geheimnisse geteilt und zusammen Schabernack getrieben.

Und dann wurden wir erwachsen. Erst zog ich an einen anderen Ort, und du hast geweint. Später verließt auch du unsere Heimat und gingst für die Liebe in eine andere Stadt. Von da an haben wir uns nur noch selten gesehen.

Aber jedes Mal, wenn ich deine Stimme am Telefon höre, stehe ich wieder im Garten unseres Elternhauses und du trägst im Sommer Blumen im Haar, und im Winter wirfst du einen Schneeball nach mir. Sofort ist sie wieder da, meine Kindheit, unsere Geschwisterzeit.

Das Leben ist schnelllebig, alles im Fluss. Alles wird durchgetauscht. Beziehungen und Jobs. Erwartungen und Träume. Alles zieht an mir vorbei. Ich stehe im Strom und bin nicht mehr der, der ich einst war.

Aber wenn wir uns gelegentlich wiedersehen, ist alles wie früher. Auch wenn du jetzt eine erwachsene, verheiratete Frau bist. Auch wenn du zwei Kinder hast und mich dadurch zum Onkel gemacht hast. Auch wenn wir keine Kinder mehr sind. Du bleibst ewig meine Schwester.

Ich bin noch nicht alt, aber auch nicht mehr jung. Ich habe schon einiges erlebt. Ich habe miterlebt, wie sich Beziehungen auflösen, von denen ich dachte, sie seien für ein ganzes Leben gemacht. Ich habe Täler durchschritten, zwischen Hügeln und Bergen. Leider sind auch geliebte Menschen aus dem Leben geschieden.

Aber du bist noch da und wirst es bis zu meinem letzten Atemzug sein. Denn du hast ohne Anstrengung den Weg in mein Herz gefunden, Schwester.

Manchmal, Schwester, nervst du mich gewaltig. Manchmal kann ich dich nicht verstehen. Manchmal wundert es mich sogar, dass wir miteinander verwandt sind. Manchmal bist du mir so fremd, tust du Dinge, die ich nicht getan hätte, die ich persönlich nicht gutheiße. Und ich weiß, andersherum ist es wohl genauso.

Trotzdem bist du meine Schwester. Das ist mit uns ist besonders. Über uns beiden könnte ein Orkan hinwegziehen, der die meisten Beziehungen auf diesem Planeten mit sich fortreißen würde. An unserer Verbindung würde er in die Knie gehen und sich in Luft auflösen. Unsere Geschwisterliebe ist dagegen geimpft. Vielleicht durch unsere gemeinsame Vergangenheit. Aber vielleicht auch durch etwas Magie.

Auch das ist eine Form der Liebe. Geschwisterliebe. Ein Gefühl, vielleicht sogar etwas Größeres als ein Gefühl. Ich finde, sie wird viel zu selten angesprochen, sie wird nicht ausreichend gewürdigt. Wir könnten ihr mehr Raum geben. Noch mehr Mut haben, sie auszusprechen. Das hast du mich gelehrt, Schwesterherz.

Manchmal sitzen wir in unserer alten Heimat zusammen auf dem Sofa, trinken Wein und schauen schweigsam ins Kaminfeuer. Oder wir schauen uns an, lächeln. Und damit ist alles gesagt. Da ist stille Liebe in der Luft, Liebe, dicker als Wasser. Liebe, die keine Worte braucht, und sich doch über Worte freut.

All diese Worte sind nur für dich, meine geliebte Schwester.


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