Nobody’s Home: Diesseits der Einsamkeit

Meine erste Freundin wurde wohl meine erste Freundin, weil sie ähnlich wie ich in dieser Phase war, eine Phase, die ich später offenbar erfolgreich verdrängen konnte. Sie trug nur schwarze Sachen und sparte mehrere Monate auf eine sündhaft teure Lederjacke hin. Ihr Gesicht war bleich, sonst hätte sie bestimmt mit Make-up noch nachgeholfen. Ihre Lippen schminkte sie grellrot. Wir taten uns wohl den Umständen entsprechend gut.

Als ich einmal bei ihr war, lief Avril Lavigne im Radio, Nobody’s Home, und sie weinte da so bitterlich, wie ich sie noch nie hatte weinen sehen.

Wir wollten beide jemand anderes sein, als wir waren. Aber weil wir dies nicht sein konnten, litten wir.

Wir brauchten und bekamen nicht.

Aber ich war jung und resignierte nicht. Ich verdrängte und rappelte mich auf. Ging weiter. Bis zum Tod meines Vaters.

Ich kann bis heute Einsamkeit nicht richtig in Worte fassen. Vielleicht ist sie einfach kein Wort. Nur ein Gefühl. Ich habe irgendwo mal gelesen, einsame Menschen glaubten, nicht liebenswürdig zu sein. Die Ursache von Einsamkeit läge in einem geringen Selbstwertgefühl. Sie gehe mit einer großen Angst vor Zurückweisung und mit der Unfähigkeit, mit sich selbst allein zu sein, einher. Ich verstehe das nicht. Vielleicht mag das bei anderen so sein, vielleicht war das teilweise in meiner Jugend so – heute kann ich damit allerdings wenig anfangen. Meine Einsamkeit trat in Momenten des Alleineseins ebenso auf wie bei geselligen Zusammenkünften. Ich hatte früher große Angst vor Zurückweisung, aber heute nicht mehr. Ich habe mich im Leben etabliert, ich habe mir ein Netz aufgebaut, das mich auffängt. Ich habe schon zu viele Aufs und Abs erlebt, um mich noch ernsthaft von einem Hickser des Schicksals aus der Fassung bringen zu lassen. Trotzdem war da immer noch das Gefühl der Einsamkeit, und manchmal ist es auch heute noch da.

Ja, ich habe mich nicht ganz von ihr befreien können. Sie ist mein Schatten. Ein Schatten allerdings, der schwindet, wenn die Sonne scheint.

Es war im Herbst. Bald jährte sich der Todestag meines Vaters zum zweiten Mal, als ich meine Mutter anrief. Dem Anruf war tagelanges Herumgedenke vorausgegangen. Wir hatten kaum noch Kontakt miteinander, seitdem. Seitdem das passiert war. Das.


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