Der Reiz des Unerreichbaren

Gelangweilt statt zufrieden: Warum wollen wir immer das, was wir nicht haben oder nur schwer bekommen können?

Tina ist hin- und hergerissen. Sie liebt ihren Freund, das schon. Aber mal wieder so richtig frei sein, nachts ungebunden unterwegs, magische Blicke, wilder Sex, andere Haut, ein fremder Duft. Neugier und Begierde, Lebendigkeit und Leidenschaft. Sie sehnt sich nach diesem Feuer, nach dem Spiel ohne Routinen, Ausgang ungewiss. Dabei war es vor fünf Jahren noch denkbar anders. Tina war Single und das schon ziemlich lang. Ging allein nach Haus, wenn die Straßenlaternen aus- und die Lichter der Bäckereien angingen. Fand dort ein leeres Bett – keine warmen Arme, um sich hineinzuschmiegen, kein regelmäßiger Atem nebenan. Niemand da, der sie in- und auswendig kannte, ihr Anker im Alltag, ihre Basis war. Keine Abende in Zweisamkeit, kein Schokoeis-von-den-Lippen-Küssen, kein Bummel über Märkte und durch ferne Städte Hand in Hand. Tina wollte die Liebe solange, bis sie kam.

Traum vs. Realität

Marius träumte lange von der Freundin seines Squash-Partners und obwohl er wollte, konnte er es nicht ändern. Natürlich war er kein Idiot, der sich in utopischen Fantasien verstrickt. Trotzdem: Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er interessante Frauen mit seinem heimlichen Schwarm verglich – und sie einfach der Reihe nach in den Wind schoss. Auf einer Party dann der Film-Moment: sie ganz allein, ein Drink in der Hand, Licht und Musik wie bestellt. Ja, sie seien getrennt, ob Marius das noch nicht wüsste. Nein, tat er nicht. Was er aber wusste, als er am nächsten Morgen neben ihr aufwachte? Die Realität hatte seine Seifenblase zerstört. Dabei war aus unüberwindbarer Ferne alles so perfekt gewesen. Marius wollte das Unerreichbare solange unbedingt, bis er es plötzlich bekam.

Wir alle sind Tina und Marius

Ganz ehrlich: Vielleicht kennt nicht jeder die oben beschriebenen Phänomene in diesem Ausmaß und schönerweise sind (und bleiben!) auch viele Menschen überglücklich, wenn Amor es nach langer Durststrecke endlich gut mit ihnen meint. Ein bisschen allgemeingültige Wahrheit steckt in den zwei Geschichten jedoch zweifellos. Von „Was man nicht bekommt, das will man haben“ bis zu „You can’t always get what you want“: Das verrückte Wechselspiel von Wollen und Bekommen ist nicht nur seit Jahren eins der Top-Themen der populären Musik, sondern zieht sich mittlerweile durch sämtliche Lebensbereiche wie eine Seuche, deren Symptome Sehnsucht und Langeweile fröhlich mit uns Fangen spielen. Das Kleid ist ausverkauft? Wir wollen es nur umso mehr. Das Stadion ist schon voll? Wir würden alles tun, um noch reinzukommen. Wenn das nur klappt, dann sind wir zufrieden. Oder?


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