Lass doch mal telefonieren!

Was ich mit dieser Kriegswitwengeschichte erzählen will: Feigheit gab es schon immer. Und jede neue Technik bot die Möglichkeit, sich hinter ihr verstecken zu können. Und gleichzeitig wuchs die Hoffnung und die Sehnsucht nach mehr Sicherheit im Dating-Zirkus.

Diese Sicherheit suggerieren heute Dating-Apps. Zur Jahrtausendwende gab es ein frühes Dating-Angebot mit dem Namen „Yes, no, maybe“. Der Name war Programm. Die Singles wischten sich durch Partnervorschläge und konnten diese bewerten mit „Ja, vielleicht, nein.“ Nur wenn beide „Ja“ oder „Vielleicht“ abgestimmt hatten, konnten die Matches miteinander chatten. Das Angebot war nicht super erfolgreich, vermutlich weil mit dem „Vielleicht“ ein Kriterium zu viel angeboten wurde, und zwar ein äußerst unsicheres, unverbindliches Kriterium. Das Konzept selbst hat mittlerweile viele Millionen Singles ins Netz locken können, denn „Ja“ und „Nein“ sind als Kriterien ziemlich eindeutig und völlig ausreichend für die aktuell erfolgreichste Dating-App.

Es geht darum, dem Single ein möglichst sicheres Gefühl zu geben. Er soll sich sicher sein, dass ein Match irgendwie passen sollte und er soll sich vor allem sicher sein, dass er keinen Korb bekommt. Denn Zurückweisungen schaden dem Selbstwert und wenn der erst einmal verletzt ist, dann kommen Bindungsangst und Verlustangst als Schutzstrategien gegen weitere Verletzungen hinzu. Die drücken sich aus in Sätzen wie: „Ich kann nie mehr vertrauen“ oder „Niemand kann meine Erwartungen erfüllen.“

Wir wünschen uns heute ein Höchstmaß an Freiheit bei einem Höchstmaß an Sicherheit. Und wir scheuen uns vor direkter Konfrontation. Ghosting, Benching und ähnliche Phänomene sind die dysfunktionalen Verhaltensweisen, die aus dieser Zerrissenheit entstehen. Und sie lassen sich nicht völlig, aber doch ziemlich gut abbilden im Kleinen, wenn Tinder-Dates alles miteinander tun würden, von durchchatteten Nächten bis hin zu Dick-Pics – aber auf gar keinen Fall, Gott bewahre, würden sie vor einem ersten Date telefonieren!

Wir sind eingelullt in Features, die uns Sicherheit vor Zurückweisung geben sollen. Wir drücken Like-Buttons, senden Herzchen und Emojis, die sind so schön unverfänglich, und wir beginnen Gespräche mit Hilfe von Bilder-Quizzen. Nur keine Enttäuschung erleben, dafür tun die Anbieter alles. Denn frustrierte Kunden ziehen weiter zur nächsten App.

Bei allen Bemühungen, den Singles in der App ein Gefühl von Sicherheit zu bieten, wird die Angst vor dem realen Kontakt, der echten zwischenmenschlichen Interaktion ohne schützende Distanz und selbst bestimmbare Antwort- und Reaktionszeit, immer größer. Selbst telefonieren erscheint heute stressig.


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