Erwartungen an die Liebe – Warum Verlust- und Bindungsangst zunehmen

Eine Beziehung mit dem AMEFI-Partner ist heute das höchste Gut

Vor Gesundheit und ewigem Leben. Eine glückliche Beziehung für immer.

Als Paarberater weiß ich, wie oft es Menschen überfordert, eine solche, gleichberechtigte, respektvolle Beziehung auf Augenhöhe zu führen und als Single-Coach weiß ich, dass den dazu passenden Partner zu finden, noch mehr Menschen überfordert. Denn wenn eine Auswahl so wichtig wird, dann fällt sie auch ganz besonders schwer. Sie macht Angst vor Fehlentscheidungen.

Und weil wir immer mehr Beziehungen in unserem Leben führen, denken wir, wir treffen immer wieder Fehlentscheidungen. Jedes Beziehungsaus bedeutet, wir haben falsch entschieden, wir sind gescheitert. Jedes missratene Date bedeutet, wir haben falsch entschieden, wir sind gescheitert. Jeder Abbruch der Dating-Phase nach drei Monaten bedeutet, wir haben falsch entschieden, wir sind gescheitert.

Jedes Scheitern verletzt unser Selbstwertgefühl

Wir führen heute ein Vielfaches an Beziehungen im Vergleich zu unseren Eltern, Großeltern und Groß-Großeltern. Einige dauern Jahre, andere nur Monate. Je mehr Beziehungen wir führen, umso mehr Trennungen erleben wir. Und jede Trennung sorgt für eine Verletzung des Selbstwertes. Und wie wir wissen: Verletzter Selbstwert steuert die Schutzstrategien, die sich in Bindungsangst und Verlustangst zeigen. „Ich kann mich nicht binden“ ist eine solche Strategie ebenso wie „Ich kann nie wieder vertrauen.“ Das sind ganz typische Überzeugungen, die die Partnerwahl vieler Singles heute sabotieren.

Unser Selbstwertgefühl ist der Dreh- und Angelpunkt unseres Bindungssystems

Ist der Selbstwert verletzt, entwickeln wir Schutzstrategien, um weitere Verletzungen und Erinnerungen an Verletzungen zu vermeiden.

Stellen Sie sich das Bindungssystem wie ein Kontinuum vor. Auf der linken Seite ist die Verlustangst. Sie stammt aus der Überzeugung: „Ich bin nicht gut genug. Ich muss mir Liebe verdienen.“ Verlustängstliche Menschen vergleichen sich permanent mit anderen und werten sich selbst ab. Bei der Partnerwahl fühlen sie sich deshalb von vermeintlich starken, selbstsicheren Personen angezogen.

Auf der rechten Seite ist die Bindungsangst. Sie stammt aus der Überzeugung: „Meine Selbstkontrolle und Autonomie ist mein höchstes Gut. Ich will mein Ich nicht verlieren.“ Bindungsängstliche Menschen fürchten, in einer Beziehung im WIR aufgesogen zu werden. Sie fühlen sich angezogen durch bindungsängstliche Menschen, weil die sich um sie bemühen und dadurch ihren Selbstwert erhöhen. Kommen diese ihnen jedoch zu nahe, dann ziehen sie den Rückzug an.

Diese Forderung-Rückzug-Strategie ist schwierig bei der Partnersuche und schwierig in Beziehungen. Sue Johnson nennt dies in ihrer Emotionsfokussierten Paartherapie den „Tanz“. Es ist eine sich selbst bestätigende Dynamik. Und diese Dynamik nimmt seit der Jahrtausendwende zu.

Als Chefredakteur von beziehungsweise, eines Online Magazins über die Liebe, erhalte ich täglich authentische Liebesgeschichten unserer Leser. Und immer wieder geht es um Verlustangst trifft Bindungsangst und umgekehrt. Ich habe einige Zitate mitgebracht.

Meine Angst vor erneuten Verletzungen ist zu groß.

Seit unserer Trennung bin ich beziehungsunfähig.

Ich werde nie wieder jemandem vertrauen können.

Wir kamen uns doch so nahe – warum hast du dich nie wieder gemeldet?

Warum können Männer nicht verbindlich sein?

In dieser Wegwerfgesellschaft ist eine Liebe wie die meiner Großeltern gar nicht mehr möglich.

Alle diese Sätze sagen, nein sie schreien: “Ich will Sicherheit! Ich will erst investieren, wenn ich sicher sein kann, dass sich die Investition auszahlt.”

Mit der Jahrtausendwende haben sich viele Dinge geändert. Drei davon erscheinen mir prägend für die zunehmende Bindungsangst und Verlustangst.

1. Da ist Online Dating

Ein frühes Dating-Angebot nach der Jahrtausendwende hieß „Yes, no, maybe“. Jedem Single wurden Kandidaten vorgeschlagen, die er bewertet. Ja, vielleicht oder nein. Sagten beide Ja oder vielleicht, wurde das angezeigt und die Matches konnten Kontakt aufnehmen. Der Anbieter setzte sich nicht durch, wohl weil mit “vielleicht” ein Kriterium zu viel angeboten wurde. Aber das Prinzip setzte sich durch, denn wie wir wissen, Ja und Nein als Auswahlkriterien genügt für die aktuelle erfolgreichste Dating-App völlig.

Das Versprechen der Anbieter ist nicht nur, den passenden Partner zu finden – den perfekten gibt es ja sowieso nicht – aber eben doch den besten. Und zwar möglichst ohne Frust, denn frustrierte Kunden zahlen nicht. Der Single soll sich sicher sein, dass es mit den Menschen, die ihm vorgeschlagen werden, auch funktionieren kann. Der Single soll sich außerdem möglichst sicher sein, nicht abgelehnt zu werden. Es geht vor allem und in erster Linie um das Gefühl von Sicherheit.

2. In allen Geschichten geht es um die Liebe

Und dann sind da die heute jederzeit und überall abrufbare Medien. Ob Buch, ob Film, ob Serie: Dreh- und Angelpunkt ist die Liebe. Sogar in Historiengeschichten aus Zeiten, in denen erwiesenermaßen Liebe kein Thema war (es gab nicht einmal ein Wort für Eifersucht vor dem 16. Jahrhundert): jede fiktive und gescriptete Dramaturgie zeigt unseren modernen Wunsch nach dem AMEFI-Partner. Alles mit Einem für Immer. Sonst sieht nämlich niemand zu. Wir wissen, das ist Hollywood, aber wir wollen es so gerne glauben. Und sehen wir nicht doch, dass andere es leben?

3. Und damit kommen wir zur dritten Neuerung des Milleniums, den sozialen Medien

Nicht nur hoffen wir nach all den wundervollen Geschichten und Filmen auf den AMEFI-Partner, wir werden täglich Bild für Bild überzeugt, es gibt AMEFI-Partner tatsächlich, denn wir sehen doch ständig solche Paare. Bei Instagram, bei Facebook, in Blogs.

Sie alle kennen die Bilder der Instagram-Paare, die sich durch die schönsten Plätze der Welt an ihren Händen ziehen. Hier Bali, dort das Tadj Mahal, beim Schwimmen, Bergsteigen und Kite-Surfen. Wenn Sie diese Bilder in ihrer Timeline sehen, dann müssen Sie ein extrem positiv aufgeladenen Selbstwert haben, um nicht zu denken: Das will ich auch. Und weil wir nun einmal soziale Medien gerade nicht nutzen, wenn es uns richtig gut geht, sondern wenn wir uns durch einen Dopamin-Kick ein Glücksgefühl besorgen wollen, denken wir sogar eher noch negativer: “Warum habe ich das nicht? Was läuft falsch bei mir?” Doch gerade mit dem Selbstwertgefühl haben wir zu kämpfen, denn je höher die Erwartungen, umso tiefer der Fall, wenn sie enttäuscht werden.


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