Wir haben zusammen Pokémon gejagt

Plötzlicher Fremdscham

Mein Freund guckt leicht genervt. „Komm, ich zeig’s dir. Aber dafür müssen wir jetzt endlich los. Das funktioniert nur draußen.“ Okay, okay, ich komme ja schon. Als wir vor unserer Haustür stehen zückt er sein Smartphone, zeigt mir ein putziges, gelbes Monster auf seinem Bildschirm und geht los. Den Blick konstant aufs Smartphone gerichtet. „Ähm, was machst du denn da?“, frage ich ihn leicht irritiert. „Hab ich doch gesagt, ich suche Pokémon, die auf dem Boden sitzen. Ah, guck, da vorne beim Mülleimer sitzt ein Taubsi.“ Ich schaue in die von ihm gezeigte Richtung und sehe – genau, NICHTS. Nur einen Mülleimer. Aufgeregt läuft mein Freund zu besagtem Mülleimer und tippt wie ein Wilder auf seinem Handy herum. Offensichtlich, um das unsichtbare Vieh zu erledigen. Ein Passant bleibt stehen und schaut ihm belustigt zu. Sogar ein junges Pärchen bleibt stehen und zeigt mit dem Finger auf ihn. Tja, und da ist er, der Moment: Ich empfinde tiefe, reine Fremdscham und möchte mir am liebsten eine Papiertüte über den Kopf ziehen. Und zwar wegen des Mannes, den ich liebe. Der Mann, der gerade neben einem Mülleimer auf unsichtbare, virtuelle Monster schießt. Jackpot!

Plötzliches Glück

Mein Freund bekommt von meinem Papiertüten-Fremdscham-Intermezzo zum Glück nichts mit. Er strahlt über das ganze Gesicht und freut sich, dass er das Mülleimermonster erfolgreich erlegt hat. Er schaut mich an wie ein aufgeregter kleiner Junge, der noch ein bisschen länger draußen spielen möchte und fragt, ob wir jetzt weiter können. Es gäbe noch so viele Tiere zu erlegen und er bräuchte nur noch ein paar „Schnurzelpupsis“ (oder so ähnlich) bis er irgendeine Trophäe oder sonst was bekommt. In diesem Moment zweifle ich erneut ganz ernsthaft an seinem Verstand, schenke ihm jedoch mein schönstes Grinsen und nehme seine Smartphone-freie Hand in meine. Ich finde seine neue Leidenschaft mehr als komisch und werde mich hüten, jemals irgendwelchen Monstern hinter Mülleimern aufzulauern – aber zu sehen, wie er sich freut, als hätte er gerade dem Weihnachtsmann höchstpersönlich die Hand geschüttelt, entschädigt mich doch für das kleine bisschen Papiertüten-Fremdscham. Und: Immerhin wird er in den nächsten Wochen garantiert nicht mehr nörgeln, wenn ich mal mit ihm spazieren gehen möchte. Schnurzelpupsis hin oder her – man muss die Feste feiern, wie sie fallen, nicht wahr?


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