Über das optimale Verhältnis von Nähe und Distanz in Beziehungen

Das Nähe-Distanz-Problem kennen viele Paare: Übt der eine Partner Druck aus, zieht sich der andere zurück. Doch ausgerechnet Distanz kann auch Nähe in Beziehungen schaffen, weiß der Beziehungsexperte Eric Hegmann. 

Durch Distanz Nähe schaffen

Jegliche Kritik am Partner löst diesen Impuls aus: Flucht oder Angriff. Der Konflikt der Partner entsteht dabei jedoch nicht durch die unterschiedliche Dynamik. Bei den meisten Paaren werden sich die Partner je nach Situation und Anlass in unterschiedlichen Rollen finden, denn ihre Verhaltensweisen sind nicht schlecht oder böse, sie sind ganz natürlich. Wie gesagt, unsere Vorfahren kannten nur Flucht oder Angriff. Die starken Emotionen, die sie verspürten, haben dazu geführt, dass sie überlebt haben und wir von ihnen abstammen.

Unsere Gehirne haben sich mittlerweile um Regionen erweitert, die abwägen und sich erinnern können; so sind wir in der Lage, Zukunftsszenarien durchzuspielen. Nur gelingt das nicht in dem Moment, in dem unser Bindungssystem aktiviert wird und unsere Gefühle einen Flucht- oder einen Angriffsimpuls setzen. Genau dafür benötigen wir Zeit – und die finden wir in der Distanz. Diese muss aber keineswegs auf Bindung verzichten, denn Menschen können sich auch über große Entfernung hinweg einander nahe fühlen. Es müssen nur beide Partner dazu bereit sein.

Textnachrichten sind heute für viele Paare ein Weg, in der Distanz dennoch Nähe zu schaffen und zu wahren. So schön und einfach dies einerseits ist, so heikel ist es andererseits, da die Partner ihre Reaktionen durch Technik gefiltert und zeitlich versetzt erleben. Die Evolution ist nicht so schnell wie die Erfindungen der Telekommunikation. Es verunsichert uns, wenn wir nicht das Gesamtpaket von Körperhaltung, Stimme, Mimik und Gestik erleben, sondern nur Worte lesen, deren Inhalt wir interpretieren müssen. So entstehen aus kleinen Missverständnissen leicht größere Spannungen.

Hinzu kommt, dass manche Menschen die Ungewissheit einer direkten Ablehnung vorziehen. Sie texten, um eine sichere Distanz zu bewahren, denn das persönliche Gespräch oder Telefonat erscheint ihnen zu nah. Wer nun dauerhaft derart vorsichtig kommuniziert, gewohnt ist, Reaktionen zeitversetzt zu zeigen (und auch ohne Zeitdruck abwägen zu können) scheitert leicht am Tempo und der Direktheit in der Gesprächs- und vor allem der Konfliktsituation. Sogar eigentlich gar nicht vermeidende Partner triggern so bereits durch eine verzögerte Antwort das Bindungssystem eines – in der Folge immer ängstlicher – agierenden Partners.

Solange die Kommunikation im Fluss ist, besteht kein Anlass für Verlust- oder Bindungsangst. Doch wird sie unterbrochen, beispielsweise durch einen Termin, der keine Kommunikation zulässt, erlebt die Bindung einen Schaden. Paaren rate ich deshalb immer, sich auf einen Zeitraum zu verständigen, innerhalb dessen die Partner reagieren sollten.

Belastend wird die Dynamik, wenn sie sich festfährt und die Rollen nicht mehr getauscht werden, wenn also ein Partner grundsätzlich verlustängstlich reagiert und Nähe sucht und der andere sich grundsätzlich bindungsängstlich verhält und Distanz schafft. Übrigens wird diese Dynamik mittel- und langfristig sicherlich auch das Schlafzimmer erreichen.

Die Macht besitzt, wer zurückweist

In der Sexualtherapie heißt es: Wer zurückweist hat die Kontrolle. Denn er (oder sie) ist durch sein Verhalten derjenige, der bestimmt, wann und wie viel Nähe das Paar erlebt. Wenn es um Sex geht, kommt nun noch eine Sache hinzu, auf die beispielsweise der Klinische Sexualpsychologe Christoph Ahlers hinweist:

Männer erleben Sex als Nähe, Frauen benötigen Nähe für Sex. Sicher ist das auch eine Frage der Persönlichkeit, doch der Wunsch nach Intimität nach einem Streit ist für Männer nach neuer Forschung wohl das Bedürfnis, nun wieder Nähe herzustellen und zu erleben. Frauen suchen jedoch eher die emotionale Nähe bevor sie sich körperliche Zweisamkeit vorstellen können.

Erinnern wir uns, wie Kinder reagieren, denen wir keine Aufmerksamkeit schenken: Sie werden traurig, sie werden zornig, sie ziehen sich gänzlich zurück, weil sie sich ungeliebt fühlen – aber sie zerschmettern auch in einem Wutanfall alles, was ihnen in die Hände gerät. Dieses gewaltige Bedürfnis nach Bindung kann selbst in Erwachsenen einen emotionalen Sturm auslösen. Es sind genau diese Momente, die dann über Ende oder Fortführung einer Beziehung entscheiden können, weil wir an diesem Punkt leicht die Kontrolle verlieren.


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