Einer liebt und leidet immer mehr

beziehungsweise-Autor Jonathan Bern über die Ungerechtigkeiten der Liebe. Und warum Berührungen und Anerkennung süchtig machen können.

Es ist auch vollkommen legitim, wenn viele Leser anderer Meinung sind. Kein Schicksal ist vergleichbar und ich kann nur von meiner eigenen Erfahrung berichten. Jahrelang wurde mein Verhalten durch meine Sehnsucht nach einer perfekten Geborgenheit geprägt. Ich wünschte mir vor allem eine liebevolle Ersatzfamilie, die mich auch nicht kritisieren sollte. Die Unmöglichkeit einer Partnerin ganz zu vertrauen, lähmte mich. Egal wie glücklich ich mich fühlte, die Angst verlassen zu werden, ließ mich nie ganz los. Wie eine Art Chamäleon passte ich mich immer wieder an, nur um nicht aufzufallen und meine innere Zerrissenheit zu offenbaren. Diese Strategie hatte mir schon als Jugendlicher geholfen, mehrere Jahre im Internat zu überstehen. Wenn Konflikte sich nicht mehr unten den Teppich kehren ließen, dann sah ich nur die Flucht als Ausweg. Auch wenn jede Trennung Schmerz bedeutete, war mir diese Erfahrung vertraut. 

Ich sah manchmal kein Licht am Ende des Tunnels

Als erwachsener Mann holte ich mir eines Tages professionelle psychotherapeutische Hilfe, um mein Leben besser zu meistern. Der Weg der Heilung kostet eine enorme Kraft. Ich fühlte mich nach den Sitzungen oft erschöpft und sah manchmal kein Licht am Ende des Tunnels. Jeder der sich in einer Krisensituation befindet, sollte sich niemals schämen, auf Unterstützung angewiesen zu sein. Dies gilt genauso für Psychopharmaka, wenn sie von einem qualifizierten Arzt ihres Vertrauens verordnet werden. Hauptsache man gerät nicht in den Händen eines Scharlatans.

Ich habe viel über mich gelernt, auch wenn ich einige festsitzende Doppelknoten nicht lösen konnte. Beziehungen sind nicht einfacher geworden, aber ich schaue genauer hin und gebe meine eigenen Defizite schneller zu. Den Glauben an das perfekte Paar, an die unbesiegbare Liebe, an die ständige Lust, habe ich längst aufgegeben. Meine Wünsche sind bescheidener geworden. Allein zu leben, macht mir keine Angst mehr und ich weiß, was zweisam einsam bedeutet. Vielleicht ist es egoistisch, zu glauben, dass es hilft, wenn jeder seine eigene Wohnung behält. Sich zu sehen, wenn beide es wünschen, für den anderen da zu sein, aber sich auch zurückziehen zu können. 

Manches klingt ein wenig desillusioniert, auch wenn ich keine Resignation empfinde. Ich habe im Corona Alltag entdeckt, dass ich meine Resilienz steigern konnte. Meine depressiven Phasen sind nicht verschwunden, aber sie bestimmen auch nicht meine Existenz in diesen schwierigen Zeiten. Mein Blick in die Zukunft bleibt nüchtern. Meine Vergangenheit kann ich nicht mehr ändern. Ich fokussiere mich auf die Gegenwart. Ich bin dankbar, dass es mir gut geht. Heute.


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