Wir wollen doch ein Wir werden

Natürlich war ihm aufgefallen, dass sie nach dem ersten gemeinsamen Jahr nicht mehr mit ganz so viel Enthusiasmus bei der Sache war wie davor. Er hatte sich das auch nicht zu erklären gewusst und hatte verschiedentlich seine Frau gefragt, ob es ihr denn auch noch gefalle oder ob sie lieber mal in ein neues Wandergebiet aufbrechen sollten. Sie hatte immer abgewunken und sich nicht getraut, das Thema offen und klar anzusprechen.

Aber jetzt war es heraus und er sah bereits ihre ganze Ehe den Bach hinuntergehen! Hatte sie ihn doch über Jahre über ihre wahren Wünsche im Unklaren gelassen und war ihm gegenüber im Laufe der Zeit immer zurückhaltender geworden, teilweise sogar regelrecht abweisend begegnet.

Ein Ausweg aus der Krise

Es scheint zwar zunächst nicht so, doch eigentlich war hier etwas ganz Positives passiert. Endlich kamen Wünsche und Bedürfnisse der Frau klar auf den Tisch und boten damit auch dem Mann die Gelegenheit, seine Partnerin wieder richtig und ganz neu kennenzulernen.

Auch ihrer Ehe bot sich damit eine fantastische Chance: Ein gemeinsames Wir zu entwickeln mit wirklich gemeinsamen Hobbies bei gleichzeitigem Herausarbeiten der individuellen Interessen.

Doch zunächst fühlte sich das Paar wie in einem gigantischen Strudel: Alles in der bisherigen Ehe wurde auseinander gewirbelt und die Partner reagierten zutiefst verunsichert und fingen an, einander aus dem Weg zu gehen. Schließlich stellten sie fest, dass sie in ihrer ersten größeren Ehekrise angekommen waren und suchten einen Paarberater auf.

Davon berichtet David Schnarch, einer der wichtigsten amerikanischen Paartherapeuten. Er war es auch, der den Begriff der Differenzierung prägte, der sinngemäß aussagt, dass es für ein Paar wesentlich ist, die eigene Identität in einer Partnerschaft zu wahren und stetig auszubauen.

Die Bildung eines Wir ist kein Problem, doch dafür wird zu oft das Kind mit dem Bade ausgeschüttet, sprich, das Ich wird zugunsten der neu entstandenen Paaridentität aufgegeben. Mit fatalen Folgen, denn: Mit der Aufgabe des Ich wird der Mensch in den Bereichen Selbstwert, Selbstbewusstsein und Wahrnehmung seiner eigenen Wünsche und Bedürfnisse schwächer und entwickelt zudem einen regelrechten Groll auf den Partner, der ja scheinbar der Verantwortliche für die Selbstaufgabe ist.

Dieser Groll kann sich bis zur Wut steigern und häufig in der Trennungsphase von Paaren beobachtet werden, wenn an dem verlassenen oder verlassenden Partner kein einziges gutes Haar mehr gelassen wird. So erscheint der früher geliebte Mensch plötzlich als durch und durch negativ und als vernichtend für das eigene Leben und die eigene Entwicklung.

Erfolg durch Paartherapie und Differenzierung

Mittlerweile hatte das Ehepaar in der Paartherapie, die sie eifrig und regelmäßig besuchten, verstanden, dass keiner dem anderen etwas Böses wollte oder ihm gar etwas wegzunehmen beabsichtigte. Sie begannen, die Chance der Situation zu sehen und zu verstehen. Und nach dem ersten Verstehen und Neu-Bedenken (Refraiming) war das gar nicht so schwierig!


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