Was wir freiwillig tun und wozu wir uns zwingen müssen

„Ich kann mir nicht erklären, was mit Edith los war“, berichtet Lukas achselzuckend. „Ich kenne sie seit einem halben Jahr, und wir haben unseren ersten gemeinsamen Urlaub als Kajak-Urlaub in Kanada angelegt. Ich bin ein Outdoor-Typ, und das war schon immer mein Traum. Edith machte auf mich den Eindruck, als teile sie diese Leidenschaft mit mir. Am dritten Tag waren wir auf einem See, und es begann zu regnen und gab ein wenig Wellengang, aber nicht wirklich gefährlich. Da ist sie auf einmal völlig ausgerastet. Hatte eine Art Nervenzusammenbruch und hat nur noch geweint. Mit Müh und Not haben wir das Ufer erreicht, sie wollte sofort nach Hause und den Urlaub abbrechen. Offenbar war sie die ganze Zeit mit schwer gewürgtem Wurm unterwegs, aber ich habe das echt nicht gemerkt! Im Prinzip fühle ich mich hinters Licht geführt. Hat sie denn ihre Begeisterung für Outdoor-Urlaub nur vorgetäuscht?“

In der Tat kann man sich fragen, wer hier wen getäuscht hat. Meine Erfahrung sagt mir, dass geübte Wurmwürgende oft nicht in erster Linie den Partner täuschen, sondern zunächst einmal sich selbst. Liebe macht blind, nicht nur für Fehler und Macken des Partners sondern oft auch für die eigenen Bedürfnisse. Es kann eine Weile gut gehen, den Wurm einem anderen Menschen zuliebe zu würgen, aber irgendwann wird sich das rächen. Das Unbewusste stellt einen ganz wichtigen Kern der menschlichen Identität dar. Die Signale des Würmlis, die somatischen Marker, sein „grmpfl“ und sein „bingo“, sind Wegweiser dafür, was zu einem Menschen passt und was nicht. Diese Signale sollen zum Nachdenken anregen und sollen auch Konsequenzen in der Lebensgestaltung mit sich bringen. Wenn man sein ganzes Leben mit gewürgtem Wurm verbringt und die Beziehung auf Wurm-Würgung aufbaut, dann stehen die Chancen für Lebenszufriedenheit nicht besonders gut.

Bin ich denn nicht ein Egoist, wenn ich in der Beziehung nur danach gehe, was mein Wurm möchte? Diese Frage kommt so sicher, wie das Amen in der Kirche, wenn ich darüber spreche, dass man sich in der Beziehung dringend vor Wurm-Würgung hüten sollte. Diese Frage ist sehr wichtig und bedarf einer sorgfältigen Antwort. Zunächst einmal ist es hilfreich zu wissen, dass man die Wurm-Würgung als Kurzzeitmaßnahme durchaus einsetzen kann. Wenn ich aus Liebe das Würmli würge und einmal mit meinem Mann ins Fachgeschäft für Vinyl-Schallplatten gehe und ihm beim Stöbern zuschaue, dann zerbricht unsere Ehe daran nicht. Wenn ich jedoch regelmäßig jeden Samstag auf der Jagd nach LPs mit ihm über Flohmärkte latschen müsste und mir bei Fachsimpeleien mit anderen Sammlern gelangweilt die Beine in den Bauch stehen würde, dann würde der „grmpfl“-Faktor auf die Dauer ein bedrohliches Ausmaß erreichen. Und wegen irgendeines – scheinbar nichtigen – Anlasses würde ich dann unverhältnismäßig stark ausrasten, ich würde mich selbst nicht verstehen und mein Mann mich schon gar nicht.

Lieben Sie doch, wie Sie wollen!
Dr. Maja Storch
ISBN: 9783456856506
Verlag hogrefe


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