Der Tag an dem ich aufhörte, “Beeil Dich” zu sagen

Als ich wie gewöhnlich für meine jüngere Tochter Avery das Mittagessen zubereitete, stand mein Laptop offen auf dem Küchentisch, und mein Telefon lag in greifbarer Nähe. Die Apparate kämpften mit Plings und Pieps um meine Aufmerksamkeit. Ich reagierte mit sofortigem Gehorsam. Zwischen ankommenden SMS und E-Mails schmierte ich eilig Erdnussbutter auf eine Scheibe Brot. Je eher ich das Mittagessen für mein Kind fertig hätte, umso schneller könnte ich ein paar dringende Punkte auf meiner To-do-Liste erledigen. Mein Kopf war mit einer Babyparty beschäftigt, die ich organisierte, mit dem niedrigen Reifendruck vorne rechts und der Einladung zu einem Gemeindefrühstück.

Aus irgendeinem Grund sah ich auf. Ich wusste, dass mein Kind da saß, aber diesmal nahm ich sie wahr. Meine süße, lockige Tochter saß auf dem Sofa und lutschte am Daumen, wobei sie sanft ihre Nase rieb. Plötzlich hatte ich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Etwas schnürte mir die Kehle zu.

Die Zeit lief mir davon.

Diese Erkenntnis bereitete mir fast körperlichen Schmerz. Dann tat ich etwas meinem pragmatischen Naturell völlig Entgegengesetztes, etwas vollkommen Untypisches. Von wegen »Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«. Ich ließ alles stehen und liegen, dachte nicht mehr an den nächsten Termin und ging einfach zu meiner Tochter. Ich ließ alles andere los; in diesem Moment war nichts wichtiger, als bei ihr zu sein. Ich setzte mich neben sie und legte den Arm um ihre schmalen Schultern. Sie sah mir in die Augen und strahlte über ihr ganzes Gesicht. Ihre großen Augen leuchteten vor Glück. Sie rutschte herüber und verschmolz mit mir, wobei sie jeden Zentimeter zwischen uns ausfüllte. Dann legte sie meine Hand an ihre rosa Lippen und küsste ganz sanft meine Handfläche. Das hatte noch nie jemand bei mir gemacht. Als sich meine Augen mit Tränen füllten, wusste ich: Das war meine Bestätigung. Mit einer einfachen, liebevollen Geste bestätigte meine Tochter mein neues Streben, Hands Free zu leben. Ich erkannte klar und deutlich: Dieses Innehalten, während die ganze Welt sich weiterdreht – bedeutet Leben.

Ich wollte mehr zärtliche Augenblicke wie diesen erleben.

Aber zuerst musste ich zugeben, dass sie gar nicht so selten wären, wenn ich einfach mal einen Moment innehalten würde. Denn ich hätte meiner Tochter einfach die Gelegenheit bieten müssen, mich zu küssen. Anders ging es nicht; ganz gleich, wie sehr sie es auch wollte, ich musste greifbar sein. Diese permanente Abwesenheit hatte mich zahllose kostbare Momente gekostet, aber Gott sei Dank hatte ich diesen einen nicht verpasst – weil der nämlich alles veränderte. Die Tage, an denen ich mich ständig ablenken ließ, gehörten offiziell der Vergangenheit an.

Rachel Macy Stafford
Der Tag, an dem ich aufhörte, „Beeil Dich“ zu sagen

ISBN-13 9783548375731
9,99 € (DE) | 10,30 (A) | sFr 13,90 (CH)
erhältlich im Ullstein Verlag

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