Ich kannte ihn nicht mehr

Zwei Tage später fuhr ich zu ihm – und rums, plötzlich war ein großer Teil meines bisherigen Lebens nicht mehr vorhanden. Die Entscheidung, von nun an meinen eigenen Weg zu gehen, lag binnen weniger Stunden nach Ende des Gesprächs mit einer Klarheit vor mir wie schon lange nichts mehr zuvor. Auf einmal hoben sich die schweren Vorhänge, die mir in den letzten acht Jahren den Blick versperrt hatten. Die dazu führten, Warnungen meiner Freunde und besorgte Blicke meiner Familie zu ignorieren. Jetzt sah ich klar. Ich brauchte einen Neuanfang. Und zwar einen kompletten.

Das gefürchtete Tief blieb aus, stattdessen: ein Gefühl grenzenloser Erleichterung. Was dann folgte: Ein Leben in Extremen. Ein Nachholen von Entscheidungen, die ich schon längst hätte treffen sollen. Was das hieß? Ich lebte. Es fühlte sich zum ersten Mal so an, als hätte nur ich die Zügel in der Hand. Es war mein Leben und ich erlaubte mir, damit zu machen, was ich für richtig hielt. Nicht, was andere von mir erwarteten oder was ich tun sollte. Ich begann mein Chaos zu genießen. Probierte einfach mal aus. Kündigte meinen Job. Beschloss, mir gegen Jahresende meinen Traum vom Reisen zu erfüllen, den ich sehnsüchtig vor mir hergeschoben habe, weil mein Freund ja mitkommen wollte und aus irgendeinem Grund immer nicht konnte. Ich fing an, nebenher als Fitnesstrainerin zu arbeiten. Zeichnete. Lernte eine neue Sprache. Meditierte täglich.

Die Trennung setzte eine Kraft frei, von der ich zuvor nicht wusste, dass ich sie besaß. Ich arbeitete an mir, jeden Tag. Hinterfragte mich, stellte Normen auf den Prüfstand. Wer bin ich wirklich? Das war die große Frage, die mich beschäftigte. Die Antworten, die ich Stück für Stück entdeckte, fingen an, mein Leben radikal zu verändern. Mein Umfeld veränderte sich mit. Von Freunden bekam ich oft zu hören, es sei ja nur eine Phase. Meine innere Stimme widersprach stets mit unglaublicher Wucht. Ich spürte, dass ich einen lebenslangen Prozess losgetreten habe, den ich nicht mehr stoppen konnte. Den ich nicht mehr stoppen wollte.


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