Ich hatte eine allzu schöne Vorstellung von dir

Wenn man sich verliebt, projiziert man die eigenen Wünsche und Hoffnungen auf den neuen Schwarm. Und irgendwann merkt man, dass der diese nicht erfüllen kann. Unsere anonyme Leserin wollte zu lange nicht wahrhaben, dass dieser Mann ihre Sehnsucht nicht stillen konnte

In meinen Augen war er der schönste Mann, den ich je kennengelernt hatte. Keiner meiner Freunde konnte es verstehen, am Anfang lachten wir noch, weil er „so sehr mein Typ“ war. Man hätte ihn problemlos einreihen können in die Reihe großer, dunkler, braunäugiger Dates, die sich über die Jahre angesammelt hatten. Nie zu ernst, eher für die guten Zeiten, nur selten lasse ich Fremde wirklich in mein Leben. Daher zunächst auch kein Interesse, kein Gedanke, warum es bei ihm anders sein sollte.

Ich kann es selbst nicht erklären und doch traf mich sein Blick jedes Mal. Das volle Programm. Mein Kopf war leer in dem Moment, in dem ich seinen Geruch wahrnahm, wenn sich unsere Haut berührte oder er in seiner ganz eigenen Art genervt die Augen rollte. Das hört sich dramatisch an, tatsächlich entwickelte sich diese Anziehung lediglich in eine gelegentliche Affäre nach langen Partynächten.

Ein baldiges Ende war schon greifbar, in Gedanken waren wir wohl bereits in den neuen Städten, in die wir ziehen würden. Es musste keinen förmlichen Abschied geben. Das fand ich gut. Ich stand morgens auf, setzte mich ins Auto und fuhr los. Neue Stadt, neuer Job, neue Männer. Aus den Augen aus dem Sinn – das war der Plan.

Und plötzlich standen wir uns nach einem halben Jahr unerwartet gegenüber. Ich wusste, dass er kein Mann ist, der sich binden lässt. Das hätte ich ihm auch nie abverlangt. Und doch konnte ich ihn nicht loslassen. Die Mädchen seiner Freunde entsprachen einem völlig anderen Bild, so versuchte ich mich also anzupassen. Ich nahm mir vor, ruhiger zu sein, weicher, wärmer, verständnisvoller, nicht zu diskutieren, zuzustimmen, wenn es angebracht war und zu lachen, wenn alle anderen lachten. Aber nicht zu laut. Die große Klappe lieber mal halten. Die derben Sprüche lassen. Die Argumente auch. Spar dir den Sarkasmus. Zurückhaltend. Entscheide du. Lächeln. Ein bisschen Small Talk.

Eine Weile ging das ganz gut. Es schien mir, als würde ich immer besser werden. Ich wollte ihm so gerne gefallen, ich wollte, dass er mich mag, dass ich mich anlehnen kann, ich wollte sein Mädchen sein. Nicht nur in der Nacht, sondern auch am Morgen danach, am gemeinsamen Nachmittag oder am entspannten Abend.


Weitere interessante Beiträge