Habe ich verlernt, mich zu verlieben?

Was geschieht in und mit einem Menschen, wenn er zu lange nicht mehr verliebt war? Jonathan Bern fragt sich, ob er womöglich das Verlieben verlernt hat

Wie fühlt sich Verliebtheit eigentlich an? Liegt es an uns, wenn wir uns nicht mehr verlieben, weil uns zu viele Ängste lähmen? Wollen wir nichts mehr riskieren, weil einige Verletzungen der Vergangenheit noch immer spürbar sind? Ich weiß es nicht mehr. Seit Jahren habe ich dieses Gefühl nicht mehr empfunden, als ob ich eine Sprache verlernt hätte. Französisch ist zwar immer noch meine Muttersprache, aber oft suche ich nach Wörtern, ich fühle mich unsicher und kann mich nicht richtig ausdrücken. Deshalb schalte ich oft lieber auf Deutsch um. Verbringe ich einige Tage in meiner alten Heimat Frankreich, dann spüre ich diese Vertrautheit wieder und alle Schwierigkeiten verschwinden. Kann man ebenso verlernen, sich zu verlieben?

Wenn ich mir Mühe gebe, fallen mir Erinnerungen wieder ein, als ich mich vor langer Zeit verliebte. Ich spüre, wie sich mein Körper und mein Geist veränderten und Glück plötzlich greifbar wurde. Was interessiert mich, ob es an den Hormonen lag – das Leben wurde in dieser Zeit schöner, leichter, intensiver. Klar habe ich viel ausgeblendet, weil ich nicht mehr rational denken konnte und jeden Tag neu erleben wollte. Einen Menschen zu treffen, mit dem man sich verbunden fühlt und der uns in diesem Augenblick festhalten kann, das wünschen sich die meisten von uns.

Aus Verliebtheit wurde irgendwann Liebe. Rückblickend bin ich heute der Ansicht, dass alles geschah, weil ich innerlich bereit war, mich zu öffnen und Gefühle zuzulassen. Jeder von uns hat schmerzhafte Erfahrungen gemacht, ist betrogen worden und war selber nicht immer ehrlich zu seinem Partner. Es gibt aber viele Paare, die klug genug sind, Konflikte früh genug zu erkennen und nach Lösungen zu suchen, um dieses Liebesgefühl am Leben zu erhalten. Mir sind nicht viele Beispiele bekannt, aber jedes Mal bin ich dankbar für diese positive Botschaft. Meine persönliche Bilanz ist leider eher ernüchternd, aber ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben, einiges in meinem Verhalten verändern zu können.

Ich bin davon überzeugt, dass ich nicht verlernt habe, mich zu verlieben, auch wenn ich zu oft mit angezogener Handbremse durch das Leben fahre: Es könnte ja ein Unfall passieren. Allerdings spürt man im Schneckentempo nichts. Die wichtigste Erkenntnis: es liegt nur an uns, eine andere Brille aufzusetzen, den ersten Schritt zu wagen, Zurückweisung nicht als Todesstrafe zu empfinden, seinen Selbstwert zu stärken und anderen zu vertrauen. Manchmal helfen auch Veränderungen, um Altlasten hinter sich zu lassen. Bei mir war es eine neue Stadt, eine neue Wohnung, andere Kollegen und Menschen die einen neugierig machen. Plötzlich steht da eine Frau, der man seine ganze Aufmerksamkeit schenken möchte. Gibt es etwas Schöneres, als zu flirten und auf ein erstes Rendezvous (klingt doch viel romantischer als Date, meint der Franzose) zu hoffen?


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