Die neue Sehnsucht nach der Großfamilie

Die Deutschen wollen wieder in Großfamilien leben. Mehrgenerationenhäuser liegen im Trend. Unser Autor kann das gut verstehen

Meine Schwiegereltern leben in einem Mehrgenerationenhaus. So heißt das ja heute, wenn die ganze Familie unter einem Dach lebt. Also Großeltern, Eltern, Kinder und Enkelkinder. Wenn die Jüngsten von den Ältesten lernen und die dazwischen sich um alle kümmern. Und jeder das Gefühl hat, in einer großen Gemeinschaft aufgehoben zu sein und einen sicheren Platz zu haben.

Früher gab es keinen Begriff dafür. Da war das Standard. Heute ist das die Ausnahme. Was nur wenige so kennen, will mittlerweile die Hälfte der Deutschen. Nach den aktuellen Zahlen des Meinungsforschungsinstituts YouGov ist die Großfamilie und das Mehrgenerationenhaus angesagter als Snapchat. Nur gibt es für sie keine App.

Meine eigenen Eltern stammen aus einer ländlichen Gemeinde, in der es kaum etwas anderes gab als Großfamilien. Wenn die Kinder auszogen, dann halfen ihnen die Eltern, ein Haus zu bauen. Maximal zwei bis drei Steinwürfe entfernt, denn auf dem Gartengrundstück war noch genug Platz. Kinder, die lieber die andere Seite der Hauptstraße wählten, galten bereits als Nestflüchter. Meine Eltern flüchteten gleich 100 Kilometer weit in die nächst größere Stadt, die den Namen überhaupt verdiente. Ich tat es ihnen später gleich und brachte 300 Kilometer zwischen uns. Ja, Kinder schauen sich nun einmal viel von ihren Eltern ab …

Heute ziehen alle in die Metropolen, maximal an den Stadtrand, wenn irgend möglich und bezahlbar. Denn dort sind die Jobs. Paare lernen sich seltener auf dem Dorffest kennen, sondern an der Uni, die sie besuchen, oder an der Ausbildungsstätte. In sicherer Entfernung der Altvorderen, die nun ihr eigenes Leben führen können – ohne Kindergeschrei und revoltierende Pubertierende.

Das war die vergangenen Jahrzehnte der Gang der Dinge. Die Generationen entfernten sich voneinander. Wie fern, erleben die werdenden Eltern, wenn es keine Großmutter gibt, die das Kind beaufsichtigen kann oder es pflegt, wenn es eine Erkältung bekommt. Der Wunsch nach der Großfamilie ist durchaus auch praktisch. Lassen Sie mal in der Kita eine Erkältung rumgehen – die Oma im Haus gegenüber als Retterin wäre jetzt der Traum!

Wir wollen aber nicht rumnostalgieren. Früher war nicht alles besser. Kinder blieben damals für immer Kinder und beugten ihren Willen gefälligst dem Familienpatriarch. Der Erstgeborene übernahm die Firma, auch, wenn der Traumberuf eben nicht Metzgermeister war. Die Partnerwahl musste die Hürde der Akzeptanz durch Eltern und Schwiegereltern nehmen. All das klingt nicht nur wenig idyllisch, das genau trieb eben Generationen in die Flucht in die Großstädte, wo sie jetzt sitzen – und sich wünschten, ihre Angehörigen wären nicht so weit weg und man könnte mehr Zeit miteinander verbringen.

Aber es geht auch anders und die aktuelle Sehnsucht nach der Großfamilie ist ein Zeichen, dass uns  eben doch manche Strukturen aus der “guten alten Zeit” ganz gut tun. Wir werden uns nicht nur an Feiertagen oder Familienfesten bewusst, dass die eigene Persönlichkeit nicht von irgendwoher kam – sondern aus einer Abfolge von anderen Individuen stammt, die ihren Weg gegangen sind und damit erst ermöglicht haben, dass man sich seinen selbst aussuchen durfte.

Der Wohnungsbau in den Städten ist nicht für Großfamilien gedacht. Das Doppelreihenhaus am Stadtrand passt nicht in jede Lebensplanung. Was können wir also tun, um unser Bedürfnis nach Zusammenleben über Generationen zu erfüllen? Wir können aufhören, Brücken abzubrechen hinter uns. Wieder zulassen, was uns scheinbar verloren geht: Der Zusammenhalt der Generationen. Wir haben uns so viel zu geben, könnten so viel voneinander lernen. Bringen Sie Ihren Großeltern bei, wie Skype und FaceTime funktionieren. Lassen Sie Ihre Kinder so oft und lange wie möglich Zeit mit den Großeltern zu verbringen und eine echte, tiefe Bindung aufbauen. Und pflegen Sie Ihre Freundschaften so, wie Sie Ihre Familie pflegen würden, denn auch Freunde sind heute Familie.

 


Weitere interessante Beiträge